Familienerinnerungen von Durs Grünbein: Bevor Dresden unterging

Durs Grünbein erzählt von seiner Großmutter, Nazideutschland und der im Krieg zerstörten Schönheit Dresdens. „Der Komet“ kommt ohne Revanchismus aus.

Historische Aufnahme aus Dresden

Dresden ist die zweite Hauptfigur des Buchs: Annenstraße und Annenkirche 1936 Foto: Deutsche Fotothek

Ganz am Schluss – und damit mitten in den dort schließlich geschilderten Bombenhagel hinein, der im Februar 1945 über Dresden niedergeht – bringt Durs Grünbein noch einmal die drei Linien zusammen, die dieses Buch durchziehen.

Da ist die Großmutter mütterlicherseits, deren Leben der 1962 geborene Büchnerpreisträger Grünbein hier erzählt. Da ist die Stadt Dresden, deren Schönheit hier noch einmal aufscheint, und gleich daneben die auf verschlungenen Wegen von der Großmutter auf den Enkel überkommene Abschieds- und auch Trauerarbeit über den Untergang dieser Stadt. Um es gleich zu sagen: von Revanchismus dabei in diesem Buch keine Spur. Und da ist, eher im Schatten dieses seines Berichts stehend, der Enkel selbst, der zum Erzähler oder vielleicht sollte man, um die Redlichkeit dieses Buches zu betonen, eher sagen: zum Berichterstatter wird.

Am Leben seiner Großmutter Dora Wachtel interessieren Durs Grünbein zunächst vor allem ihre ersten Dresdner Jahre. Geboren ist sie auf dem Land, herrischer Vater, schwere Kindheit. Mit 16 lernt sie Oskar Wachtel kennen und zieht zu ihm nach Dresden. Sie heiraten. Er arbeitet als Schlachtergeselle auf dem Schlachthof, dem modernsten der Welt, wie es in dem Buch heißt. Sie bekommt zwei Töchter. Das kleine Glück.

Es waren nun allerdings die dreißiger Jahre. Grünbein: „Die vier Jahre bis zum Ausbruch des Krieges waren, auch in der Erinnerung, ihre goldene Zeit, die Gründerzeiten ihrer Ehe. Ihr Verhängnis war nur, dass es gleichzeitig die Jahre des Aufschwungs unter dem Nationalsozialismus waren.“

Durs Grünbein: „Der Komet“. Suhrkamp, Berlin 2023. 286 Seiten, 25 Euro

In kreisend sich voranbewegenden erzählerischen Anläufen legt Durs Grünbein nun zwei Erzählungen übereinander: die große welthistorische Erzählung von der schließlich totalen Durchdringung der Gesellschaft durch den Nationalsozialismus. Und daneben und teilweise darunter und darinnen, in den Alltagsblasen innerhalb des nationalsozialistischen Systems, die kleine Erzählung der jungen Dora W., die vom Land in die große, moderne Stadt zieht, sich ein Leben aufbaut und mit großen Augen durch die Metropole läuft.

Ein erzählerisches Wagnis

Das erzählerische Wagnis, das Durs Grünbein in diesem Buch eingeht, besteht darin, diese beiden Erzählungen nicht ineinander aufgehen zu lassen. Seine Großeltern waren keine Nazis, das macht Durs Grünbein glaubhaft. Aber Widerstandskämpfer eben auch nicht. Was mit der jüdischen Frau geschieht, die in ihrem Haus in einer Dachmansarde lebt, registriert Dora W. so genau, wie sie später die Zwangsarbeiter wahrnehmen wird, die brennende große Synagoge; sie nimmt es hin wie ein Naturereignis. Und ihr Mann, Oskar W., zieht als Koch in den Krieg.

Historisch interessant ist, wie rasend schnell sich die Entwicklungen im Alltagsbewusstsein vollzogen haben müssen. Ständige Mobilisierungen – immer neue Verordnungen, Sammelaktionen für völkische Hilfswerke, Luftschutzübungen – machten den Alltag zum permanenten Ausnahmezustand.

Dass die private Geschichte sich im Rahmen eines verbrecherisch gewordenen Deutschlands vollzieht und Teil dieser furchtbaren, großen Geschichte ist, daran lässt Durs Grünbein keinen Zweifel. Doch die private Geschichte – die kleinen Freuden des Badens in der Elbe, der Glanz in der Augen der Großmutter, wenn sie ins Kino geht oder in Schaufenster guckt, der Stolz der jungen Mutter, ihre Kinder auch bei schmalem Budget gut durchzubringen –, das alles geht in der großen Geschichte nicht ganz auf.

Manches am Alltag darf für sich stehen. Und dann ist aber gleich immer wieder auch eine erzählerische Traurigkeit darüber spürbar, in dieser Nazizeit die Familiengeschichte nicht als den hübschen, frechen Emanzipationsroman erzählen zu können, den die Großmutter als junge Frau auch gelebt hat.

Dresden: ein Konzert aus Stein

Neben der Großmutter hat das Buch eine zweite Hauptfigur, das ist Dresden selbst. Streckenweise schwelgt Durs Grünbein geradezu in den Erinnerungen seiner Großmutter darüber, wie schön und aufregend die Stadt gewesen ist, „ein einziges steinernes Konzert“, als Touristenmagnet auf einer Höhe mit Venedig und Florenz: „Pöppelmanns Zwinger, die Rampische Gasse, ein Farbenfeuerwerk war da angezündet – aber aufgepasst! Man musste zusehen, dass sich nicht in den Schienen verfing, nicht im Glanz der Warenhäuser ertrank.“

Gleich mehrfach – die Wiederholungen gehören zu den Aspekten des Buchs, die einem seltsam vorkommen können – betont er das Romantische an Dresden: „Man konnte sich in den Gassen verirren, als hätte man sich im Jahrhundert vertan.“

Auf die Frage, woher er soviel über die Erinnerungen seiner Großmutter weiß, kommt Grünbein immer mal wieder zurück. Die Übertragung der Erinnerungen auf die Enkelgeneration geschah zunächst im familiären Rahmen.

So führte die Großmutter gern Selbstgespräche, Durs Grünbein belauschte sie als Kind – Kinder sind ja tatsächlich sehr aufmerksame Hörer von Subtönen! –, und in diesen Selbstgesprächen stieg immer etwas aus der Kriegszeit herauf „wie Blasen in einem Teich“. An einer anderen Stelle heißt es, dass sie ihm in Andeutungen „Scherben“ hinterlassen hat, die der Enkel „wie ein Puzzle“ zusammensucht.

Insgesamt war es offensichtlich so wie in vielen deutschen Familien. Aus Versatzstücken, Deckerinnerungen und Familiengesprächen reimt man sich als Kriegsenkel den eigenen familiären Hintergrund zusammen – wenn man denn einen Sinn dafür hat und redlich genug ist, die massenhaften Verstrickungen in ein System, das die Welt bedrohte, zu sehen.

Die verschwiegene Vergewaltigung

An alles kommt auch Durs Grünbein nicht heran. Ausdrücklich heißt es einmal, dass er sie vor ihrem Tod Mitte der 90er Jahre gern noch vieles gefragt hätte, es aber versäumt hat. Seiner Mutter hat sie kurz vor ihrem Tod etwa auch noch eine bis dahin ein Leben lang verschwiegene Vergewaltigung durch Soldaten der Roten Armee erzählt.

Dramaturgisch läuft das alles auf den 13. Februar 1945 zu, die erste Nacht des Flächenbombardements. Die letzten 20 Seiten des Buchs sind dann auch erzählerisch furios. Mittendrin wirft Durs Grünbein auf die Erzählsituation noch ein neues Licht. Dass sie von Treblinka wusste, dem KZ, erzählt die Großmutter dem Enkel ausdrücklich: „Ich war damals noch jung, ein halbes Kind, das viele Stunden bei ihr verbrachte, nichts deutete darauf hin, dass ich eines Tages nur noch für das Schreiben leben würde, aber sie hatte da etwas in mir erkannt und mich beiseite genommen.“

Es gab da also, so kann man in diese Szene hineinlesen, auch so etwas wie einen Auftrag, irgendwann einmal von den Erfahrungen der Großmutter in aller Ehrlichkeit zu erzählen. In die Schilderung vom Untergang Dresdens hinein montiert Durs Grünbein hier die Andeutung eines Künstlerromans.

Seine Großmutter hatte an diesem Tag Glück. Als die Bomberstaffeln kamen, lag sie mit Scharlach im Krankenhaus und wurde rechtzeitig evakuiert. Eine Bekannte von ihr, Tante Trude, rettete geistesgegenwärtig ihre beiden Töchter, indem sie mit ihnen aus der brennenden Stadt floh. Durs Grünbein ist das Kind von Überlebenden, die nur knapp der Katastrophe entronnen sind. Von dieser Erschütterung erzählt er hier nicht direkt, aber auch sie ist in dem Buch enthalten.

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