Christliche Ideologie im Internet: Rückschritt ist wieder hipp

Die Geschichte von „The Real Life Guys“ Johannes und Philipp Mickenbecker zeigt, wie Christen ihre Ideologie unter jungen Menschen verbreiten.

Zwei Männer sitzen sich an einem Tisch gegenüber.

Auch im echten Leben missionarisch: Philipp Mickenbecker zu Gast bei einer Sendung von Bibel TV Foto: Bibel TV

Minutenlang zeigt die Totale den verblutenden, immer bleicher werdenden Philipp. Neben dem Krankenbett stehen singend und betend Familie und Freunde. Dann stirbt der 23-jährige Youtube-Star.

Es ist eine der letzten Szenen des im September 2023 erschienenen Films „Philipp Mickenbecker: Real Life“, der Philipp und den Freundeskreis der „Real Life Guys“ in den letzten Monaten seiner Krebserkrankung im Jahr 2021 begleitet. Nach kurzer Stille verkündet Freund Eric: „Ich lass mich taufen.“ Die Gruppe jubelt. Philipps Mutter umarmt Eric. Auch der Letzte der Gruppe bekennt sich zum Evangelium, die missionarische Botschaft wird deutlich. Sie ist eine der expliziteren auf dem Weg „aus Freundschaft, Abenteuer und Bekehrung“, wie eine Freundin es nennt.

2016 beginnen die Zwillingsbrüder Johannes und Philipp Mickenbecker auf ihrem Youtube-Kanal „The Real Life Guys“ die ersten Videos hochzuladen. Eine Fahrradtour von Frankfurt nach Cuxhaven, ein selbst gebautes Floß mit Würstchengrill. Die Videos finden in der boomenden DIY-Szene Anklang. Mittelpunkt vieler Projekte werden ausrangierte Badewannen, die zu Amphibienfahrzeugen oder U-Booten umgebaut werden. Der Flug mit einer selbst gebauten Drohne – eine Badewanne mit vier Rotoren – erreichte bis heute 4,9 Millionen Aufrufe. Es folgen Kooperationen mit anderen Youtubern, Baumärkten und Werkzeugherstellern. Mittlerweile hat der Kanal mehr als 1,7 Millionen Abonnent:innen.

Dagegen trifft das echte Leben die „Real Life Guys“ hart. 2018 verunglückt die Schwester der Zwillinge, die immer wieder Teil der Videos war, kurz vor ihrem 19. Geburtstag tödlich. Gleichzeitig bricht bei Philipp zum zweiten Mal Lymphdrüsenkrebs aus. Er bricht die Behandlung ab, wird trotzdem wieder gesund. „Gott hat mich wieder auf die Beine gestellt“, sagt Philipp. Doch 2020 rezidiert der Krebs, streut in Lunge, Herz und Knochen.

Offener Umgang

Mit den Schicksalsschlägen gehen die Geschwister auch auf Youtube offen um. Selbst nach seiner dritten Diagnose spricht Philipp von seiner „unglaublichen Hoffnung“. Sein Umgang mit dem Tod beeindruckt nicht nur die eigene Community. Viele große deutschsprachige Youtuber wünschen unter dem Video Kraft, Johannes und Philipp werden in Talkshows eingeladen, der NDR begleitet Philipp in einer Dokumentation. Fast beiläufig wächst in den Videos und der anteilnehmenden Berichterstattung eines mit: Immer öfter wird von Gott gesprochen.

Ab 2020 entwickelt sich um Philipps drittes – und tödliches – Rezidiv und den Heimwerkerkosmos immer entschiedener ein Umfeld social-media-affiner junger Christ:innen, die ihre missionarische Botschaft nach außen tragen. Im Shop der eigenen Website verkaufen die Brüder jetzt auch Hoodies mit Bibelversen oder Aufdrucken wie „Jesus is my Coach“ – und Philipps Buch über den Erfolg auf Youtube, den Tod der Schwester und seine Krankheitsgeschichte: „Meine Real Life Story: Und die Sache mit Gott“. Gemeinsam mit Christopher Schacht, damals in Ausbildung zum Pastor und Missionar am theologischen Seminar des Bundes freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP), gründen sie den Kanal „Life Lion“, um die eigentlich DIY-begeisterten Zu­schaue­r:in­nen des Hauptkanals „noch ein bisschen mit in unser Glaubensleben zu nehmen“, wie es im ersten Video heißt.

Dr. Claudia Jetter und Dr. Martin Fritz von der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen ordnen die „Real Life Guys“ innerhalb des evangelikalen Spektrums dem­ neocharismatischen Christentum zu. Die in Deutschland eher als Pfingstbewegung bekannte Strömung gehört weltweit zu den am schnellsten wachsenden Glaubensrichtungen. Nach Angaben des Bundes freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) besuchten 2022 deutschlandweit rund 117.000 Menschen in 872 Gemeinden charismatische Gottesdienste.

Die Bewegung richtet sich vor allem an junge Menschen, inszeniert sich in Gottesdiensten und sozialen Medien als modern und weltoffen. Pfar­re­r:in­nen in Sneakern und Holzfällerhemden sprechen über Star Wars und Partys, die Worship-Musik klingt nach Indiepop und hat längst Einzug in weltliche Spotify-Playlists gefunden.

Abgrenzung zur Aufklärung

Das Fundament ist meist erzkonservativ. „Weil man die Bibel als zentrale Autorität des Glaubens betrachtet, ist man an ein biblisches und damit antikes Weltbild gebunden“, sagt Fritz. „Der Glaube erhebt den Totalanspruch auf das Leben. Das führt zu einer dezidierten Abgrenzung von aufklärerischen, kritischen Impulsen.“ Neben dem Glauben an Wunderheilungen und eine enge individuelle Beziehung zu Gott, der in allen Lebensbereichen wirkt und konkrete Lebensanweisungen gibt, charakterisiert die Szene laut Jetter vor allem ein streng dualistisches Weltbild: „Wenn sich alles darauf konzentriert, für Christus zu leben, rein zu leben, dann gibt es immer die Kehrseite, das Böse, die Versuchung. Das ist eine gegengöttliche Kraft, eben klassisch Satan.“ Fritz ergänzt: „Dementsprechend gibt es einen zweiten Dualismus: Wir hier, die Frommen, dort draußen die Welt. Die Folge ist eine fast natürliche Tendenz zur Absonderung.“

Aus popkultureller Frömmigkeit und wir gegen die gefallene Welt entstehen neue Kooperationen. Gemeinsam mit dem evangelikalen Rapper-Duo „O’ Bros“, werden Songs und Videos produziert. Auch mit Jasmin Neubauer, die bereits damals unter dem Namen „LIEBEZURBIBEL“ den Lebensschutz „für mehrere tausend Babys im Mülleimer“, die Unterordnung der Ehefrau sowie homo- und transfeindliche Inhalte propagierte und später, 2023, wegen der Zusammenarbeit mit dem neurechten Youtube-Kanal „Ketzer der Neuzeit“ in der Kritik steht, nehmen sie ein Video über den gemeinsamen Glauben auf. Host des „Life Lion“-Podcast wird Daniel Höly, der ebenfalls den Podcast des evangelikalen IDEA-Magazins moderiert, in dem wiederum die O’ Bros, Mickenbeckers, Neubauer und Schacht zu Gast waren.

Was für den Hauptkanal die umgebauten Badewannen sind, ist für den religiösen Ableger „Life Lion“ die frohe Botschaft. Mit 290.000 Abonnements im Januar 2024 gehört der Kanal zu den reichweitenstärksten deutschsprachigen christlichen Youtube-Kanälen. Gezeigt werden Making-ofs und Heiratsanträge genauso wie Interviews mit ehemaligen Süchtigen und Zwangsprostituierten.

„Am Anfang gibt es immer eine Art Lebenskrise, einen Tiefpunkt. Und an diesem Tiefpunkt hat man es geschafft, die Umkehr zu finden, zu Jesus zu finden, und es geht wieder bergauf. Dieses Bekehrungsnarrativ ist typisch für das evangelikale Milieu“, analysiert Jetter die Moral der Videos. Die Suche nach immer drastischeren Tiefpunkten führt den Kanal bis in den verschwörungs­ideologischen Bereich: „Für den Satan vergewaltigt“, titelt eines der Videos und bedient das Narrativ, eine global agierende satanistische Elite würde Menschen kontrollieren und missbrauchen. Am Ende kann nur Gott retten.

In anderen Videos spricht Philipp über seine Krankheit und Begegnungen mit Gott. Wie Gott als Zeichen für seine Heilung Polarlichter erscheinen ließ, ihm verbat, nackte Frauen zu zeichnen, oder – es waren Feuerwerkskörper – Feuer vom Himmel regnen ließ. „Dreh- und Angelpunkt ist die Erzeugung von Authentizität. Anders als bei Theo­lo­g:in­nen oder ordinierten Personen werden die eigenen Glaubensvorstellungen in erster Linie biografisch und aus der eigenen Erfahrung legitimiert“, meint Jetter, die zu sogenannten Christfluencern forscht. „Am Ende bleibt die implizite Message: Probier’s doch mal aus!“ Das funktioniert. Unter den Videos kommentieren Dutzende Menschen, dass sie durch Philipp (wieder) zum Glauben gefunden hätten.

Evangelikales Who's who

Auch im echten Leben widmen die „Real Life Guys“ ihre Aktionen für den missionarischen Zweck subtil um. Über den Hauptkanal, bis dahin ausschließlich Plattform für Heimwerkervideos, rufen sie nach der Flutkatastrophe im Ahrtal zur Hilfe auf: „3 Tage mit 850 Abonnenten im Katastrophengebiet“, titelt das Video, das die Aufräumaktion begleitet. Was es verschweigt: Or­ga­ni­sa­to­r:in­nen sind „Samaritan’s Purse“ und „Hoffnungswerk e. V.“, Vereine mit klar evangelikalem Profil.

Die O’ Bros spielen für die Helfer:innen. Jetter sieht den intransparenten Aufruf problematisch: „Ein Kanal, der davor tendenziell religiös neutral war, wird jetzt für ein evangelistisches Ziel verwendet, was nicht angezeigt wird. Hier gibt es auf jeden Fall eine sehr gezielte Nutzung ursprünglicher Abonnent:innen, die zwar darüber informiert werden, wozu sie aufgerufen sind, aber nicht, mit wem zusammen.“

Innerhalb der Szene gibt Philipp mindestens so viel Rückhalt, wie er erfährt. Vor seinem Tod besucht ihn das evangelikale Who's who. Gemeinsam mit Pastoren und prominenten Weg­be­glei­te­r:in­nen wie Schauspieler Samuel Koch oder den Tiktok-Stars Lisa und Lena wird gebetet und gesungen.

Auf Youtube erzählt er: „Wenn es jemanden gibt, der durch meine Krankheit und durch meine Schmerzen näher zu Gott kommt, dann hat sich das Ganze ja schon gelohnt.“ Das Bild wirkt nach innen wie nach außen: der Gottverlassene, der an Gott festhält. „Da wird mit den Mitteln des Influencings ein klassisch christliches Motiv, die Leidensnachfolge Jesu, reinszeniert. Das hat großes Potenzial“, meint Fritz. „Mickenbecker wird damit zum Heiligen der neocharismatischen Bewegung.“

Der Film über Philipps letzte Monate folgt dieser Inszenierung: Nach einem Auftritt in einer Gemeinde liest Regisseur Lukas Augustin für den halbnackten, blutenden Philipp aus der Bibel und fragt, ob er nicht manchmal das Gefühl habe, seinen Auftrag schon erfüllt zu haben. Auf Szenen, in denen aus der mittlerweile offenen Wunde in Philipps Brustkorb Maden entfernt werden, folgt der betende Freundeskreis oder Phi­lipp, wie er in der Bibel liest.

An Stellen, die Schatten auf Philipps Glauben werfen könnten, hält sich der Film gerne kurz. Auf die Frage, warum die Zwillinge bis zur vierten Klasse zu Hause unterrichtet wurden, antwortet die Mutter: „Weil es uns wichtig war, dass wir alle unsere Dinge in Verbindung mit dem Glauben leben. Das war teilweise extrem. Wir waren immer extrem.“

Doch die „Real Life Guys“ machen die Szene, die sonst oft in ihrer eigenen christlichen Blase stecken bleibt, zugänglich. Weil sie bei Reizthemen wie dem biblizistischen Weltbild, Purity-Culture und Homosexualität vage bleiben, bilden sie den perfekten Einstieg in die hippe Rückschrittlichkeit des Evangelikalismus.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.