Außenministerin Baerbock läuft die Rampe eines Bundeswehrfliegers herunter.

Außenministerin im Krisenmodus: Annalena Baerbock am Flughafen al-Arish in Ägypten Foto: Michael Kappeler/dpa

Drei Monate Israel-Gaza-Krieg:Diplomatische Schmerzgrenze

Außenministerin Baerbock ist in Nahost unterwegs. Der Ton gegenüber Israel verschärft sich. Humanitäre Hilfe erreicht den Gazastreifen derzeit kaum.

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10.1.2024, 11:06  Uhr

Lkw um Lkw reihen sich entlang der Landstraße auf. Kilometerlang. Unter manchen Planen lugt ihre Ladung hervor: Reis, kiloweise Mehl, Kisten voller Wasserflaschen, Decken. Auf dem Weg vom ägyptischen Flughafen al-Arisch Richtung Grenzübergang Rafah stauen sich dringend benötigte Hilfsgüter. Eigentlich sollen sie zu den Menschen im wenige Kilometer entfernten Gazastreifen gelangen. Doch ihr Transport wird von Israel nur schleppend freigegeben.

„Im Moment kommen nur rund 100 Lkw täglich durch“, sagt Gemma Connell. Sie leitet das Büro der UN für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten – kurz OCHA. Seit Wochen ist sie am Grenzübergang Rafah im Einsatz. Sie ist auch direkt in den Gazastreifen gereist. „Menschen hungern, sie können nicht versorgt werden, wenn sie von den Bomben getroffen werden. Es mangelt an allem: Essen, Wasser, Zelte“, sagt Connell.

Am Dienstag traf die UN-Mitarbeiterin die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Tor in Rafah, das den Weg in den Gazastreifen weist. „Wir alle, die wir hier arbeiten, haben schon viele Kriege gesehen. Aber so etwas wie hier noch nie“, sagte sie der Ministerin. Für Connell sitzen mehr als eine Million Menschen, die auf der Flucht vor den Bomben Israels sind, in der Falle.

Baerbock ist an die äußerste Grenze dieser Falle gefahren. Eine Reise in den Gazastreifen direkt wurde ihr verwehrt, aber die Geschichten, die sie in Rafah von Hilfsorganisationen und von den Mit­ar­bei­te­r:in­nen der deutschen Botschaft hört, braucht die Außenministerin, um glaubhaft bei allen Parteien des Krieges für ein Ende der Gewalt zu werben. In Israel, das den Gazastreifen bombardiert, um die Hamas-Terroristen zu töten, gleichzeitig aber die Zivilbevölkerung nicht ausreichend schützt. In Ägypten, das eine neue Fluchtbewegung der Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen verhindern will und internationale Unterstützung braucht. Auch will Baerbock zeigen: Die Bundesregierung steht zwar ungebrochen zu Israel, aber das Leid unschuldiger Menschen muss ein Ende haben.

Baerbock in Aktion

Zehn Tonnen Hilfsgüter übergibt die Außenministerin an den ägyptischen Roten Halbmond. Decken, Zelte, Schlafsäcke sollen im Gazastreifen verteilt werden. Mit einer A400 M, einer Bundeswehrmaschine, ist sie vom Kairoer Flughafen nach al-Arisch geflogen. Die rund 40 Paletten mit lebensrettenden Gütern bringt sie persönlich vorbei. So lässt Baerbock es sich nicht nehmen, bei der Ankunft auf dem Flughafen auf der Ausstiegsrampe des Bundeswehrfliegers die Ladung zu prüfen.

Damit kann sie zeigen, dass sie das Selbstverteidigungsrecht Israels nicht vergisst und zugleich die Menschen in Gaza mit dem Nötigsten versorgen will. Auch weiteres Geld soll es für das Krisengebiet geben: Die humanitäre Hilfe wurde auf rund 211 Millionen Euro aufgestockt.

Rund eine Stunde dauert es vom Flughafen al-Arisch bis zum Grenzübergang Rafah. Mit hohem Tempo donnert die Delegationskolonne den Highway entlang. Vorbei an karger Steinwüste, am Horizont sandige Dünen, die Luft flirrt. Baerbock ist nicht die erste Außenministerin, die nach Rafah kommt. Aber womöglich eine derjenigen Diplomat:innen, die seit Langem darauf drängen, an den Grenzübergang zu fahren.

„Gaza ist die Hölle“, wird sie später vor dem General Hospital in al-Arisch sagen und sich bei den UN-Mitarbeiter:innen bedanken, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um zu helfen. Etliche sind bei der Bombardierung ums Leben gekommen, laut UN gab es in einem solch kurzen Zeitraum nie so viele tote UN-Mitarbeiter:innen wie in diesem Krieg. Es sind nicht nur die Hilfslieferungen, die nicht in den Gazastreifen gelangen.

Auch schwerverletzte Kinder kommen nur unter großen Anstrengungen heraus, um in Ägypten behandelt zu werden. Und das, obwohl Israels Nachbar rund 4.000 Plätze in den Krankenhäusern für die Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen zugesagt hat. Im General Hospital konnten seit dem 7. Oktober 2023, nach dem brutalen Überfall der Terrormiliz Hamas auf Israel und dem darauf folgenden Krieg, rund 300 Menschen behandelt werden. Vor allem Kinder und Frauen. „Es zerreißt einem das Herz“, sagt Baerbock.

Für Gemma Connell sind die Staatsbesuche eine der Gelegenheiten, ihre Hauptforderung zu stellen: Einen Waffenstillstand – und zwar jetzt. Und: dass Hilfsgüter auch über den israelischen Grenzübergang Kerem Schalom nach Gaza gebracht werden können. Bisher werden die Waren dort nur gescannt und dann nach Rafah gebracht. Dort warten die Lkw, bis sie vom israelischem Militär durchgelassen werden. „Es müsste viel schneller gehen. Das ist nicht professionell“, sagt auch Lotfy Soliman vom ägyptischen Roten Halbmond.

Auch er hat die Außenministerin getroffen. Soliman zeigt auf Krankenwagen und Feuerwehrautos, die am Grenzübergang stehen. Auch ihre Fahrer müssen warten. „Sie wechseln sich ab“, sagt er. Sie kommen jeden Tag wieder und hoffen, dass sie Schwerverletzte in eine Klinik bringen können. Die Fahrer kommen aus Ägypten, manche sind Palästinenser, die Angehörige im Gazastreifen haben. „Es ist gefährlich zu fahren, aber sie machen es trotzdem, um zu helfen“, sagt Soliman.

Zum vierten Mal seit Kriegsbeginn ist Baerbock im Nahen Osten – und sie bewegt sich auf heiklem Terrain. In Jerusalem trifft Baerbock gleich zu Beginn ihres Besuchs ihren neuen israelischen Amtskollegen Israel Katz. Seit Anfang Januar ist er im Amt – und nun zum zweiten Mal Außenminister Israels. Gemeinsam mit Angehörigen von Hamas-Geiseln empfängt er Baerbock in Westjerusalem.

Sie hoffen, dass sich die deutsche Außenministerin bei ihren Terminen und Reisen für die sofortige Freilassung der Geiseln ausspricht. Rund 130 Menschen werden von der Terrororganisation noch immer festgehalten. Über ihren Zustand ist wenig bekannt. Ob sie noch leben oder nicht, ist unklar. Doch je länger der Krieg fortschreitet, desto mehr schwindet die Hoffnung, dass sie freikommen. Und damit wird auch die Verzweiflung der Angehörigen größer.

Nach ihrem Gespräch mit Katz wird Baerbock an diesem Abend eindringlich an die Hamas appellieren, die Geiseln unverzüglich freizulassen. Und sie skizziert auf persönliche Weise, was es bedeutet, einen nahestehenden Menschen in Terrorgefangenschaft zu wissen. „Jeder, der bereit ist hinzuschauen, sich vorzustellen, es sei die eigene Familie, kann und darf dazu nicht schweigen.“ Deshalb steht es für Baerbock und die Bundesregierung auch außer Frage, Israel im Kampf gegen die Hamas weiter beizustehen. „Wenn die Hamas diesen Kampf nicht fanatisch fortsetzen würde, wäre der Krieg schon längst vorbei.“

Gibt es überhaupt noch Hoffnung, dass die Geiseln lebend freikommen? Durch die Vermittlung des Golfstaates Katar gelang es im Austausch mit palästinensischen Häftlingen, israelische Geiseln zu befreien. Doch nach der Militäraktion gegen Hamas-Führungskader und dem Tod von Saleh al-Aruri, dem zweithöchsten Anführer der islamistischen Terrororganisation im Ausland, scheinen Verhandlungen dieser Art in weite Ferne gerückt.

Baerbock bleibt nicht viel mehr, als den Angehörigen ihre Hilfe zuzusagen. Oder sie bei ihrem straffen Programm wenigstens kurz zu treffen. Wie Yehiel Yahoud. Seine beiden Kinder wurden am 7. Oktober aus dem Kibbuz Nir Oz verschleppt. Auf dem Platz Kikar in Tel Aviv wirbt er mit anderen Freiwilligen dafür, die Geiseln nicht zu vergessen, sondern weiterhin ihre Freilassung zu fordern.

Klare Haltung von Deutschland gefordert

Auch den israelischen Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, trifft sie in Israel. Für die Haltung der Bundesregierung bei vergangenen UN- Abstimmungen zur Lage in Nahost hat er kein Verständnis. Deutschland enthielt sich etwa, statt mit Nein zu stimmen, als eine Resolution eingebracht wurde, die die Hamas als Terrororganisation nicht eindeutig verantwortlich machte für das Leid im Gazastreifen, keine sofortige Freilassung der Geiseln forderte, sondern vor allem eine Waffenruhe und humanitäre Hilfe in den Mittelpunkt stellte. Immerhin: Im Gegensatz zu Frankreich oder anderen EU-Staaten stimmte Deutschland nicht für die Resolution. Doch der Plan, mit dem Signal der Enthaltung „alle diplomatischen Kanäle“ offenzuhalten, ging bisher nicht auf.

Gleichzeitig verschärft sich der Konflikt zwischen Israel und der Schiitenmiliz Hisbollah im Libanon zunehmend. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) besuchte deshalb am Mittwoch auch die deutsche Bundeswehrfregatte „Baden-Württemberg“ in Beirut. Die Fregatte unterstützt die UN-Beobachtermission Unifil. Derzeit sind 129 Sol­da­t:in­nen an Bord des Schiffes.

Rund 4,5 Stunden dauert die Fahrt der Fregatte von Beirut bis zur Pufferzone um die Blue Line, der Linie zwischen Israel und dem Libanon. Seit dem 7. Oktober 2023 wird vermehrt in dieser Region geschossen, die Israelis schießen hauptsächlich mit Artillerie, aus dem Libanon werden vor allem sogenannte Anti-Tank-Missiles abgefeuert. Flottenadmiral Dirk Gärtner leitet die Maritime Einsatzmission. Er spricht von einer neuen Zeitrechnung seit dem 7. Oktober. Aber: Weder Israel, noch der Libanon, noch die Hisbollah hätten ein Interesse daran, den Standort der UN-Beobachtermission zu treffen. Bisher gab es nur kleinere Vorfälle, ein Soldat wurde angeschossen.

Die Blaue Linie markiert eine Art Pufferzone für das israelische wie auch das libanesische Militär. Eingerichtet wurde sie seit dem Ende des zweiten Libanonkriegs vor rund 18 Jahren. Seit Kriegsbeginn im Herbst 2023 feuert die Hisbollah verstärkt aus der Pufferzone heraus, die Israelis reagieren und fordern den Rückzug der Hisbollah. Seit 2006 hätte man sich im Prinzip an einen Friedensbetrieb gewöhnt, sagt Gärtner. Jetzt sei die Lage anders.

Die Einschätzung des Admirals deckt sich auch mit dem, was geflüchtete Familien aus dem Norden Israels Baerbock erzählt haben. Da sie in unmittelbarer Nähe zum Libanon leben, ist ihnen die tagtägliche Bedrohung eigentlich nicht fremd. Doch mit dem Krieg in Gaza verschärfte die vom Iran unterstützte Hisbollah den Raketenbeschuss auf ihre Dörfer.

Jetzt sind sie Geflüchtete. Sie sind im Hotel Herods Herzliya in Tel Aviv untergekommen. Die deutsche Außenministerin ist gekommen, um mit ihnen zu sprechen. Auf Plastikstühlen sitzen sie im Kreis mit Baerbock im Garten des Hotels. Drumherum spielen Kinder, fahren mit dem Rad vorbei, Katzen schleichen über den Hof, ältere Be­woh­ne­r:in­nen verweilen auf Bänken im Hof. In anderen Zeiten übernachten Tou­ris­t:­in­nen hier und genießen den Blick aufs Meer. Jetzt leben die geflüchteten Familien mit ihren Kindern in den Zimmern.

Der Leiter eines Fußballstadions ist dabei, eine Inhaberin eines Schuhgeschäftes, ein Schlosser, eine Angestellte. Sie alle kommen aus Kirjat Schmona – und wollen zurück in ihre Häuser. Aber wann? Sie wissen es nicht. „Wir wollen doch nur in Frieden leben“, sagt einer der Bundesaußenministerin. Eine Mutter macht sich große Sorgen um ihren Sohn, der nun in der israelischen Armee ist und gegen die Hamas kämpft. Ein Familienvater beschreibt die Zustände, wie seine Familie leben muss: Mit drei Kindern in einem kleinen Zimmer.

Einsatz für Deeskalation im Libanon

Baerbock hört sich ihre Lebensgeschichten an, macht Selfies mit den Be­woh­ne­r:in­nen des Fluchthotels. Und sie versichert: Sie wird sich bei all ihren Gesprächen im Nahen Osten, auch im Libanon, für eine Deeskalation einsetzen. Die Hisbollah ist mit der Hamas verbündet, manche fürchten gar, dass der Libanon zum „sicheren Hafen“ für die Terrormiliz werden könnte.

Die Diplomatiemaschinerie läuft derzeit auf Hochtouren. Nicht nur Baerbock ist unterwegs. US-Außenminister Antony Blinken lieferte sich mit seiner deutschen Amtskollegin einen fliegenden Wechsel – als Baerbock nach Ägypten abreiste, traf Blinken in Israel ein. Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ist in ähnlicher Mission wie Baerbock unterwegs, er besucht die Golfstaaten und kommt dann ebenfalls nach Israel. Doch eine echte Lösung nach dem Zweistaatenmodell scheint derzeit ferner denn je. Die Fronten sind verhärtet, eine Ausweitung des Konflikts auf Libanon und Hisbollah droht und damit ein Flächenbrand: Worst-Case-Szenario ist ein regionaler Krieg zwischen Israel und Iran sowie dessen Verbündeten.

Laut Israels Verteidigungsminister Joaw Gallant soll der Krieg jetzt in eine neue Phase übergehen. Mehr Präzision bei den Luftschlägen gegen Terrorfunktionäre, zugleich will die israelische Armee im Kampf gegen die Hamas aber keinesfalls nachlassen. Vor allem für die Menschen im Gazastreifen bedeutet das wohl weiteres Leid.

„Der Krieg muss aufhören“, fordert UN-Mitarbeiterin Gemma Connell noch einmal mehr. Bis dahin will sie alle Hilfsgüter, die sie beschaffen kann, an die Menschen wenige Kilometer entfernt verteilen. Wie jeden Tag in den vergangenen Wochen wird sie auch morgen zurück an den Grenzübergang Rafah kommen.

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