Avantgardejazz-Gitarrist:in Jules Reidy: Meditation über Verletzlichkeit

Künst­le­r:in Jules Reidy erweitert das Klangspektrum der Gitarre – und ist eines der Aushängeschilder des Festivals CTM in Berlin.

Jules Reidy steht vor einer Glassteinwand

Reidys Album „zielt darauf ab, ein Gefühl des vollständigen Eintauchens zu erzeugen“ Foto: Katja Feldmeier

Am 26.01.24 startet die 25. Ausgabe Elektronikfestivals „für abenteuerliche Musik und Kunst“ CTM in Berlin. Es ist ein Highlight für Musikbegeisterte aus aller Welt. Teil des Abenteuers ist, wie sehr im Konzept des Festivals dem Randständigen vertraut wird. Eine Künstler:in, die dem entspricht, ist Jules Reidy. Die in Berlin lebende queere Avantgardejazz-Gitarrist:in aus Australien machte früher als Julia Reidy Musik. Im Anschluss prämiert sie in Live-Form auch das neue Soloprojekt „One Leg One Eye“ von Ian Lynch, der von der irischen experimentellen Folkband Lankum bekannt ist.

„Im Moment kombinieren meine Livesets Elemente aus den letzten Veröffentlichungen, aber auch neue Songs und Ideen. Ich mag es, Sets immer anders aufzubauen und zu überarbeiten, anstatt Alben im Konzert nur zu reproduzieren oder ein festes Set zu haben“, beschreibt Jules Reidy der taz, was am 29. Januar im Radialsystem zu erwarten ist.

Reidys jüngstes Album heißt „Trances“, veröffentlicht wurde es im vergangenen November beim französischen Label Shelter Press. Davor kam 2022 das Album „World in World“ heraus, ebenso wie „Trances“ bekam es reichlich Beachtung, genau wie „Vanish“ aus dem Jahr 2020.

Autotune-Stimme

Reidy arbeitet vor allem mit ungewöhnlichen Gitarrensounds im Vordergrund und ihrer von Autotune verfremdeten Stimme als Hintergrund. Ihre experimentellen Soloalben lassen sich in der Klangsignatur irgendwo zwischen Ambient, Drone, Folk und Pop verorten. Reilys Sound besitzt hohen Wiedererkennungswert.

Neben Soloalben und -performances spielte Reidy unter anderem in Gitarren-Duos mit Sam Dunscombe, Andrea Belfi und Morten Johm, hatte Auftritte mit und komponierte für Mu­si­ke­r*in­nen wie Zinc & Copper, The Pitch und Sun Kit.

Das 44-minütige Album „Trances“ besteht eigentlich aus einem einzigen „Nicht-lineare-Stufen“-Track mit nur einer Pause in der Hälfte. Darauf schafft Reidy ihr eigenes musikalisches Universum, das sich als dekonstruierter Drone-Folk beschreiben lässt. Technisch beherrscht Reidy ihr Instrument virtuos – eine rein gestimmte hexaphonische E-Gitarre, speziell für eigene Zwecke angefertigt. Die reine Stimmung ist ein Tonsystem, das, auf der Naturtonreihe basierend, von großer klanglicher Klarheit und Harmonie bestimmt ist.

„Ich habe meine Herangehensweise an die Gitarre so entwickelt, dass sie der Musik, die ich machen möchte, dienen kann. Ich setze das Instrument wahlweise als ein zu verarbeitendes Signal ein, als Mittel zur Erzeugung von rhythmischen Impulsen und Mustern, oder als Tongenerator und einzigartige harmonische Basis und als Sammlung von Klängen, zu denen ich mich hingezogen fühle“, kommentiert Reidy das Verhältnis zur Gitarre.

Experimentell und eingängig

Die Künst­le­r:in spielt auf „Trances“ mit harmonischen und disharmonischen, gemächlichen und dynamischen Sequenzen – vor allem aber mit Wiederholung: Dadurch klingt die Musik zwar experimentell, wirkt jedoch zugleich eingängig. Neben der im Sound prominenten Gitarre, häufig in der Technik des Fingerpicking gespielt, taucht immer wieder Reidys undeutliche Autotune-Stimme auf.

Festival CTM Berlin, verschie­dene Orte, 26. 1. bis 3. 2.

Jules Reidy, live 29. 1. Radialsystem Berlin, 3. 2. Volksbühne Berlin

Zu diesen beiden musikalischen Hauptkomponenten gesellen sich Synthesizer, gesampelte 12-saitige Gitarren und Field Recordings. Die so kreierte vage und schwebende Atmosphäre ist von Gefühlen der Melancholie, der Sehnsucht und des Unwohlseins geprägt. Doch die Musik ist durchaus angenehm zu hören, man wird regelrecht betört, fühlt sich aufgehoben in dieser einzigartigen, bizarren Stimmung, die sich nur schwer mit Worten wiedergeben lässt.

Die Musik ist durchaus angenehm zu hören, man wird regelrecht betört, fühlt sich aufgehoben in dieser einzigartigen, bizarren Stimmung

Die Worte, die Reidys eigene beruhigende Autotune-Stimme singt, bleiben stets unverständlich – manchmal meint man, man sei kurz davor, sie zu entschlüsseln, etwas Konkretes im Nebel der verschwommenen Soundlandschaft zu erwischen, doch man scheitert.

Reidy selbst beschreibt das Album der taz wie folgt: “'Trances’ beschäftigt sich abstrakt mit Trauer in nicht-linearen Phasen – die Songtitel entsprechen diesen Phasen, sind nonlinear und wiederkehrend. Das Material stammt größtenteils aus verarbeiteten und verräumlichten, umgestimmten E-Gitarren – es zielt darauf ab, ein Gefühl des vollständigen Eintauchens zu erzeugen, das sowohl tröstlich als auch erschreckend sein kann.“

Am dritten Februar wird es noch eine CTM-Veranstaltung geben, bei der die Musik von Jules Reidy erlebt werden kann. An dem mit „Through the Thinking Iceberg“ betitelten Abend in der Volksbühne wird Reidy gemeinsam mit der kanadischen, ebenfalls in Berlin lebenden Klangkünstlerin Crys Cole die französische elektroakustische Komponistin Félicia Atkinson begleiten.

Philosophie und Umweltschutz

Das Programm der Uraufführung „eines experimentellen Oratoriums für drei Personen“ in fünf Teilen verspricht konzeptuell zu werden, es sollen Themen aus Philosophie und Umweltschutz musikalisch aufgegriffen und so Verbindungen zwischen Eisbergen und menschlichem Leben ergründet werden.

Es soll reflektiert werden, „was es braucht, um sich um eine Umgebung und um einander zu kümmern, und was auch Einsamkeit mit Zusammengehörigkeit verbindet, eine poetische Auseinandersetzung zwischen geschriebenen Elementen und improvisierten Worten, Bewegungen und Klängen, eine Meditation über Verletzlichkeit.“

Es werden Flügel, Gitarre, Field Recordings, Stimmen, Flüstern zu hören sein: ein „abstrakter Minimal-Grunge voller kleiner Details, Metaphern und Abstraktionen, der eine komplexe und zerbrechliche Verbundenheit offenbart, selbst an Orten, an denen es scheinbar kein Leben gibt.“

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