Israel nach dem 7. Oktober 2023: Geschichten ohne Fluchtpunkt

Unsere Autorin war Nahost­korrespondentin, nach dem 7. Oktober 2023 zog sie zurück nach Berlin. Mit Wehmut blickt sie auf das Geschehen in Israel.

Menschen sitzen in einem Park und die Bäume blühen.

Viele Israelis protestieren gegen Netanjahu, auch rund um die Knesset, wo im Park die Bäume blühen Foto: Matan Golan/imago

BERLIN taz | Mein Handy vibriert, eine Nachricht meiner Freundin Atar. „Schade, dass du nicht da bist. Es blüht hier wie verrückt“, schreibt sie. Atar lebt im Norden Israels im Kibbuz Gonen. Gerade jenseits des Streifens, der evakuiert wurde, aber nah genug an der Grenze zum Libanon, um die zunehmende Eskalation zwischen Israel und der Hisbollah mit eigenen Ohren mitzuverfolgen.

Mein Partner liest über die Schulter mit. „Wir sollten Ende April über Pessach nach Israel fliegen“, sagt er. Es würde Sinn machen. Wir würden seine israelische Familie besuchen, unsere Freund*innen, wenn auch wohl nicht Atar im Norden. Würden auf Tuchfühlung gehen. Das Problem: Ich will fliegen – und gleichzeitig will ich nicht.

Es ist ein halbes Jahr her, dass wir, zwei Tage nach dem Massaker der Hamas, beschlossen haben, zurück nach Berlin zu ziehen. Von 2019 bis 2023 war ich Korrespondentin für Israel und die palästinensischen Gebiete. Mein Traumjob, eigentlich. Die Geschichten über die Menschen dieses Landstrichs haben mich immer ein bisschen mehr berührt als die aus anderen Ländern.

Das mag daran liegen, dass in den Geschichten oft auf beiden Seiten Figuren steckten, die dem so verfahrenen Konflikt etwas entgegensetzten: israelische Besatzungskritiker*innen; linke Religiöse; einst militante Siedler oder Palästinenser*innen, die Frie­dens­ak­ti­vis­t*in­nen geworden sind. Obwohl ihre Geschichten von Checkpoints und Maschinengewehren, Häuserabrissen und Terroranschlägen, getöteten Kindern, islamistischer Radikalisierung und jüdischer Siedlergewalt handelten, liefen sie auf ein gutes Ende zu.

Vielleicht buchen wir deshalb keinen Flug: Die Geschichten haben ihren Fluchtpunkt verloren. Ihre Aussicht auf ein gutes Ende.

Die Hoffnung, so vage

So sehen es auch die meisten Israelis, vor allem die Liberalen unter ihnen. Vor nicht allzu langer Zeit waren die Straßen voll mit blau-weißen Fahnen und Menschen, die die Demokratie des Landes retten wollten. Seit einer Woche sind sie zurück. Doch sie sind angereichert mit bislang ungekannter Wut und tiefem Schmerz. Getragen werden sie von einer nur vagen Hoffnung, so formuliert es ein Freund von mir, der auf kaum einer der Demonstrationen gegen den Staatsumbau der extrem rechten Regierung Benjamin Netanjahus gefehlt hat: „Wir müssen das Wort Hoffnung neu definieren. Vielleicht ist nur dies noch geblieben: Die Hoffnung auf einen Wandel, ohne zu wissen, wie der aussehen soll.“

Innerhalb des Landes sind die Liberalen in die Ecke gedrängt – und international steht Israel zunehmend isoliert da. „Israel alone“, titelte der Economist Ende März. Ja, die Solidarität mit den Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen ist nicht immer sauber von Antisemitismus zu trennen. Doch Israel ist auf dem Weg, ein Paria­staat zu werden. Den Israelis, die Verstand haben, treibt dies die Angst in die Knochen.

Den Forderungen der USA und der EU nach einer Zweistaatenlösung wollen viele von ihnen dennoch nicht nachkommen. „Die Hamas hat uns bestialisch angegriffen und jetzt sollen die Palästinenser dafür einen eigenen Staat bekommen?“ – so lautet der Tenor. Doch tritt man aus der israelischen Perspektive heraus, kann man auch fragen: „Was erwarten die Israelis? Kann man Tausende Zi­vi­lis­t*in­nen töten, sie aushungern und erwarten, dass die Welt ei­ne*n noch unterstützt?“

Zurück zu ihren Überzeugungen, zurück in die Vergangenheit

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

In den Tel Aviver Cafés, berichtet ein anderer Freund, gehe es derweil um Erkältungen und Uhrendesign. Wenig im Straßenbild erinnert daran, dass sich Israel im Krieg befindet. Allenfalls die Banner, die an Hauswänden und Autobahnbrücken einen Deal zur Rückkehr der Geiseln fordern, und die Sturmgewehre, die zum Modeaccessoire geworden sind, weil so viele Re­ser­ve­sol­da­t*in­nen im Einsatz sind, aber auch wegen des Vorstoßes von Minister Itamar Ben-Gvir, die Bevölkerung zu bewaffnen.

Über die katastrophale Lage in Gaza und die drohende Hungersnot ist in den israelischen Medien so gut wie keine Rede. Viele Israelis wollen davon auch nichts wissen. „Macht Gaza platt“, sagten nicht wenige im ersten Schock nach dem Massaker, auch Menschen, die vorher Friedensverhandlungen nicht abgeneigt waren. Einige sind seitdem wieder zu ihren früheren politischen Überzeugungen zurückgekehrt. Andere nicht.

Und dann sind da noch die, die mit dem 7. Oktober geradewegs in die Vergangenheit katapultiert wurden. Posttraumatische Belastungsstörungen plagen viele. Ex­per­t*in­nen rechnen mit rund 30.000 neuen Fällen von PTBS nach dem 7. Oktober. Die Angst, ausgeliefert zu sein, hat sich neu in der israelischen Seele verankert.

Alles ist nun sichtbar

Viele Anti-Besatzungs-Langzeit-aktivist*innen sagen, es habe sich nichts grundlegend verändert, es sei nur alles sichtbar geworden, die Besatzung, die Unterdrückung. In einer Hinsicht dürften sie zumindest recht haben: Vielleicht ist der Fluchtpunkt, der auf ein gutes Ende zulief, nicht einfach nur verschwunden. Vielleicht war er schon immer nur einer von vielen – und ich habe ihn einfach besonders gerne gesehen. Das erträumte gute Ende, ein Frieden, welche Form er auch hätte annehmen sollen, wird immer mehr ersetzt durch das Ziel der Radikalen auf beiden Seiten: Entweder wir oder sie.

Und so sind die messianischen Sied­le­r*in­nen – neben Netanjahu – die Einzigen, für die der Krieg eine Chance darstellt: die Rückkehr nach Gaza. In Siedlungen und Jerusalem hängen Zettel gerichtet an Leute, die sich einer Gruppe anschließen möchten, um den Gazastreifen zu besiedeln. „Auslöschen, eindringen, bleiben!“ steht in fetten Lettern darauf.

Noch einmal vibriert mein Handy. „Weißt du, letztes Jahr im Frühling habe ich die Samen für dieses Jahr verteilt und ich sehe das Ergebnis. Jetzt pflanze ich die Samen für nächstes Jahr, und der Gedanke, ob der Kibbuz dann noch existieren wird, verlässt mich dabei nicht für eine Sekunde“, schreibt mir Atar.

Vielleicht buche ich auch schlichtweg nicht, weil – es ist die am wenigsten rühmliche Antwort – ein Krieg mit der Hisbollah noch lange nicht ausgeschlossen ist. Es wäre ein verheerender Krieg, so viel scheint klar.

Und Atar? Das Leben geht vorerst weiter, schreibt sie, dort im Kibbuz im Norden von Israel. Sie pflanzt weiter Blumen und Sträucher. Nur Bäume, die pflanzt sie nicht. Das wäre zu optimistisch.

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