Diedrich Diederichsens 21. Jahrhundert: Speisereste von Astronautennahrung

Diedrich Diederichsens neues Buch verspricht bewusst größenwahnsinnig „Das 21. Jahrhundert“. Es bündelt 173 Texte des Autors aus 23 Jahren.

Diedrich Diederichsen blickt mit Sonnenbrille in die Kamera.

Bifurkation, Entelechie, perhorreszieren: Mit solchen Ausdrücken muss man bei Diedrich Diederichsen rechnen Foto: Joachim Gern

Das 21. Jahrhundert ist wie eine Push-Meldung. Jene besonders aggressive Eilbotschaft, die aus einer gewöhnlichen Nachricht ein Clickmonster machen will. Oder, um mit einer Wortschöpfung von SciFi-Autor Philip K. Dick zu sprechen, aus einem Schwein „ein Wobb“. So titulierte der US-Schriftsteller ein bedrohlich-invasives Mischwesen im All, das konstant nach Aufmerksamkeit heischt, dazu völlig irrational in seinen Bewegungsabläufen umherwabert und daher für Raum­fah­re­r:In­nen schwer zu fassen ist.

Schrecken, Idiotien, aber auch Glücksbotschaften und Epiphanien, zu finden in der 1.100-seitigen Essaysammlung „Das 21. Jahrhundert“ von Diedrich Diederichsen, wenngleich ihre Veröffentlichung ohne mediales Getöse vonstatten geht. Bei der familiären Buchpräsentation im Roten Salon der Berliner Volksbühne sind viele vertraute Gesichter. Allen voran Rainald Goetz, der in der ersten Reihe sitzt und dabei oft den Kopf querlegt.

Die Volksbühne war und ist für Diederichsen ein zentraler Ort. So beschreibt er sie im Buch als „Resonanzboden von Erfahrungen“, an dem er, der „Theaterentfremdete“, Ende der 1990er voraussetzungslos in Berlin andocken konnte, neue Themenfelder und „ein anderes Publikum“ fand, als er es vor dem Wegzug aus Köln vom Theater gewohnt war. Die Volksbühne war pop­affin und diskursfreundlich. Im Register von „Das 21. Jahrhundert“ taucht der Volksbühnen-Regisseur (und spätere Intendant) René Pollesch neben dem US-Künstler Tony Conrad am häufigsten auf.

Allein sechs Texte setzen sich mit Polleschs Inszenierungsstrategien auseinander, dem Diederichsen bescheinigte, „für die Zeit danach“ zuständig zu sein, während alle anderen an der Volksbühne Tätigen jeweils Richtung Westen oder Osten blickten. Schockiert sei er gewesen, als er vom unerwarteten Tod Polleschs erfahren hatte, gesteht Diederichsen.

„Das 21. Jahrhundert“ ist bereits sein neuntes Buch im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, seit er dort 1985 „Sexbeat“ publiziert hat. Er ist der Autor für die Langstrecke, so erschien bei KiWi bereits Ende der 1980er das großformatige „1500 Schallplatten“, seine gesammelten Albumrezensionen.

Diedrich Diederichsen: „Das 21. Jahrhundert. Essays“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 1.136 Seiten, 58 Euro

Nach dem Ende des Hamburger Musikmagazins Sounds, 1983, bei dem Diederichsen als Redakteur angefangen hatte, ging er zum Kölner Magazin Spex, wurde zum Herausgeber; etwas später begann er, an Kunsthochschulen zu unterrichten, was er bis heute tut. Aktionsradien und Themenkreise erweiterten sich konzentrisch, der Textoutput blieb konstant hoch.

Genres miteinander verschalten

Dass bei Diederichsen, dem Enzyklopädisten, der stets so fabuliert, als würde sein Zettelkasten in eine Hipbag passen, nicht nur Aka­de­mi­ke­r:In­nen auf ihre Kosten kommen, machen schon Aufbau und Auswahl seines Buches klar. Da wird mit „Die Simp­sons“ die Archäologie der US-Gesellschaft betrieben, da wird über die Fallstricke von Denkmälern für Erinnerungskultur sinniert. Vergessene, wie der frühverstorbene Maler Stephan T. Orth werden ins Gedächtnis zurückgeholt, das Schicksal von Britney Spears ergründet.

Die Idee für den Buchtitel führt Diederichsen auf Größenwahn zurück. Inspiriert von Carl Einsteins „Kunst des 20. Jahrhunderts“, einer Kunstgeschichte, veröffentlicht bereits 1926, als gerade ein Viertel des 20. Jahrhunderts absolviert war. „Das 21. Jahrhundert“ bündelt 173 Texte aus den letzten 23 Jahren. Eingeteilt in 15 Kapitel, erhält jedes davon einen an die „Asides“, die kurzen Ansprachen von Michael Caine im britischen Film „Alfie“ erinnernden Vorspann.

Formal sind Genres wie Musik, Comics, Theater, bildende Kunst, Kino, TV-Serien, Philosophie und Geschichte gleichbedeutend, oftmals sind sie miteinander verschaltet. Wenn er über den Comicstrip „Doonesbury“ aus der Herald Tribune nachdenkt, fällt ihm eine Anekdote zu Max Horkheimers Zeitungslektüre ein und er beschäftigt sich mit Kritischer Theorie. Für die Klangsignatur des Münchner Jazzlabels ECM zieht Diederichsen eine Linie zu Samuel Beckett.

Kurze Zeitungskritiken (darunter auch Rezensionen aus der taz), Buchbeiträge für Kunstkataloge und Konferenzvorträge sind ebenso abgedruckt wie längere Essays, darunter solche für angloamerikanische Magazine wie Frieze oder Artforum, die es bisher noch gar nicht auf Deutsch zu lesen gab. Wobei der Reiz gerade darin liegt, dass die Texte aus den ursprünglichen Zusammenhängen herausgerissen sind.

Der Autor sieht in ihnen nun Stoff für Geschichtsschreibung, „um vorstellbar zu machen, wie es weitergehen könnte“, und „um einen Begriff von […] Beschleunigung und Verlangsamung zu gewinnen“, wie es im Vorwort heißt. Dieses Vorwärts in die Vergangenheit erinnert an Walter Benjamins Diktum, dass nur jener Historiker imstande ist, durch seine Darstellung von Vergangenheit Hoffnung zu spenden, der davon überzeugt sei, dass „nicht mal die Toten sicher sind, wenn der Feind gewinnt“.

Gegen eine restaurative Politik

Der Moment, als „Das 21. Jahrhundert“ zeitlich einsetzt, um die Jahrtausendwende, war in der damals noch frischen „Berliner Republik“ ein Merkmal gesellschaftlichen Wandels: Lockerheit war nach den bleiernen Kohl-Jahren und der Nationalisierung der Nachwende überall geboten und kam, getarnt als jugendlicher Elan, auch im kulturkonservativen deutschen Feuilleton zum Vorschein.

Diederichsen sah darin bereits damals einen „Angriff einer rechten […] Szene auf die kulturelle Hegemonie linker Subkulturen“, ihm schauderte vor der „poppigen Hauptstadt“. Zumal über Popkultur im Feuilleton seinerzeit fast nur solche Au­to­r:In­nen schrieben, die eine Journalistenschule absolviert hatten und innerhalb des Zeitungsbetriebs ausgebildet wurden. Adelige Edelfedern hatten Begriffe wie „cool“ und „hip“ als Geiseln genommen und begannen, mit onkelhaftem Dünkel über Stilfragen zu räsonieren oder Oberklasse-Normalität als Nonplusultra von gutem Geschmack durchzusetzen.

Gleich in mehreren Texten erteilt Diederichsen dieser restaurativen Politik eine Absage, die darin gipfelte, längst durchgesetzte Popstars, Filme und Anschauungen endlos zu variieren. So besteht er auf dem intellektuellen Gehalt von Musik und macht die Repräsentationspolitik von Minderheiten stark. Statt Top-down-„Pop-Literatur“ beschwört er einen antihierarchischen Begriff von Kultur und eine organische Form von Intellektualität, wie sie im Werk von Hubert Fichte zum Ausdruck kommen.

Das Außen ins Zentrum rücken

Das maulwurfmäßige Buddeln, Graben und Querverbindungenmachen zieht sich wie ein roter Faden durch „Das 21. Jahrhundert“. Das kann auch heißen, dass Diederichsen in einem Text über die afroamerikanische Literaturwissenschaftlerin Saidiya Hartman „Vokabular bereitstellen“ will, um ihre Forschungsmethode der „critical fabulation“ (historische Fakten, angereichert mit fiktionalen Elementen) vorzustellen.

Noch heute wird Diederichsen von der FAZ spöttisch als „Professor für Subkultur“ bezeichnet und damit in die Außenbezirke des öffentlichen Interesses versetzt. Diederichsen geht es dagegen darum, das Außen ins Zentrum zu rücken. Den Mainstream betrachtet er mit distanziertem Interesse, wie man allein schon mehreren Texten in einem Kapitel über zeitgenössische TV-Serien von „Mad Men“ bis „The Deuce“ entnehmen kann. Oft kommt er dabei über Details zum Kern des Untersuchungsgegenstands, etwa, wenn er Romane beschreibt, die „wie zufällig“ ins Blickfeld von Serienhandlungen gerückt sind.

Bifurkation, Entelechie, perhorreszieren. Solche und andere Fachbegriffe floaten über die Seiten wie Speisereste von Astronautennahrung durch eine Raumkapsel. Das ist die charakteristisch glaubwürdige Diederichsen-Spraak, wie in einem frei improvisierten Konzert kann man einfach mitgehen und sich darauf einlassen, es schadet nicht. Unterhaltsam bleibt er vor allem in den eigenen Wortschöpfungen. Die Intros zu den Songs kommen ihm vor wie „sentimentaler Nachteulenschleim“, heißt es zum Beispiel über Lady Gagas Musik.

Der Autor als alter weißer Mann

Leerstellen gibt es auch. Jenseits der Volksbühne scheint bei Diederichsen nur wenig Interesse an all things Ostdeutschland und Osteuropa vorhanden. Und wenn doch, dann ist dies jedenfalls nicht Gegenstand dieses Buches. Zurück zur Push-Meldung, ein Wermutstropfen ist, dass „Das 21. Jahrhundert“ in einigen diskurspolitischen Analysen bereits von der pushenden Gegenwart eingeholt wurde.

So ist das Vorwort zeitlich vor dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 entstanden und hat die Verwerfungen, die durch die einseitige Parteinahme im angloamerikanischen Raum für die Palästinenser und gegen Israel entstanden sind, nicht mehr berücksichtigen können. Diederichsen, der traditionell enge Verbindungen zur angloamerikanischen akademischen Szene pflegt, hat auf Nachfrage bestätigt, dass er die Position von ­Judith Butler zur Hamas missbilligt.

In einem Text, der 2021 zunächst vom Magazin Merkur gedruckt wurde, geht er mit der konservativen Feuilletonkritik an woken Positionen, angeblicher Cancel-Culture und Intersektionalität ins Gericht. Die Behauptung, „bestimmte Männer“ hätten im Feuilleton das Sagen, „die gern im Genre des Machtworts etwas zurechtrücken“, stimmt nur so halb.

Denn vom identitätspolitischen Furor gegen „alte weiße Männer“, wie er auf spießigste deutsche Gartenzwergart vom Jägerzaun brach, waren nicht nur Feuilletonisten in Leitungspositionen betroffen, sondern auch Aktivisten, die seit den 1990er Jahren gegen Antirassismus gekämpft hatten. Und was ist eigentlich mit Diederichsens eigener Position als alter weißer Mann? An anderer Stelle im Buch taucht sie dann selbst­kritisch auf. Und das ist super.

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