Canisius-Pater bekommt Bürgerpreis: „Nicht die ganze Wahrheit“

Pater Mertes bekommt von SPD-Chef Gabriel den Heinemann-Preis für besonderen Bürgermut. Ein anonymer ehemaliger Canisius-Schüler über den Mut der anderen.

Blick aus dem Canisius-Kolleg in den Innenhof. Bild: dapd

taz: Pater Klaus Mertes bekommt am Donnerstag einen Preis als Aufklärer der sexuellen Gewalt gegen Schüler am Canisius-Kolleg. Wieso bekommt er ihn zu Recht?

Anonymus: Weil er es war, der als Vertreter der Institution die Zugbrücke herunterließ. Zu uns, die wir von draußen jahrelang versucht hatten, auf die sexuelle Gewalt aufmerksam zu machen. Pater Mertes sagte den wichtigsten Satz, den es für einen Betroffenen überhaupt geben kann: „Ich glaube euch!“

Dennoch sagen Sie, Pater Mertes musste zu diesem Satz bekehrt werden. Warum?

Weil Mertes und der Orden schon seit Jahren von den Missbrauchsfällen wussten. Er hat wiederholt erklärt, dass er bereits 2006 gemeinsam mit der Ordensleitung in München über den Umgang mit Missbrauchsfällen durch den Täter S. beraten hat. „Die Täternamen habe ich dem Pater Provinzial [Chef der Jesuiten in Deutschland, d. Red.] mitgeteilt“, sagte er in einem Interview. „Ich war bei den Beratungen dabei.“

Was bedeutet das?

Mertes hätte schon jahrelang Gelegenheit gehabt, mutig zu sein. Er war es aber nicht. Er war erst mutig, als er im Winter 2009 von mutigen Betroffenen dazu genötigt wurde.

Hat er die Öffentlichkeit also aufgeklärt und zugleich hinters Licht geführt?

Wenn Sie so wollen. Er hat, um es böse zu sagen, bei der Bekanntmachung der Missbrauchsfälle über seine eigene Rolle nicht die ganze Wahrheit gesagt. Er tat so, als sei die Kontaktaufnahme durch Matthias Katsch für ihn eine Offenbarung. Auf diese Weise entzog er sich der naheliegenden Frage, warum er nicht schon Jahre früher gehandelt hat.

Es gab seit Jahren Druck auf den Jesuitenorden. Wieso brach alles ausgerechnet 2010 auf?

Weil es im Winter 2009/2010 einige Betroffene gab, die sich bedingungslos dafür einsetzten, die Missbrauchsfälle ans Licht zu bringen.

Betroffene wollen oft heraus mit ihrer Missbrauchsgeschichte und wollen es auch nicht. Warum dieser Widerspruch?

Über sexuellen Missbrauch zu berichten ist nicht vergleichbar mit der Schilderung, Opfer eines Taschendiebstahls geworden zu sein. Die Betroffenen müssen mit der eigenen Scham umgehen. Wenn sie also sprechen, erzählen sie sich zunächst einmal selbst eine Geschichte, die die eigene Psyche zur Selbsterhaltung tief vergraben hat. Viele Betroffene bleiben dabei stecken. Sie erleben eine schmerzliche Selbstkonfrontation mit düsteren, widerlichen Erinnerungen.

Und die, die es schaffen weiter zu gehen?

Ihnen gelingt es, sich gegenüber ihren Partnern, Freunden, Angehörigen zu offenbaren. Dies erfordert ein souveränes Umgehen mit dem Erlebten. Nur: Wo soll diese Souveränität nach 30-jähriger Verdrängung herkommen?

Dann weiß die Öffentlichkeit aber noch nichts.

Nur die allerwenigsten Betroffenen sind in der Lage, öffentlich zu sprechen. Sie dürfen keinerlei Furcht davor haben, wie ihr privates und berufliches Umfeld auf ein derartiges „Outing“ reagieren könnte. Hierfür gab es praktisch keine Präzedenzfälle – bis Matthias Katsch und ein paar andere den Schritt wagten.

Warum fällt es so schwer aufzuklären?

Opfern eines Fährunglücks würde niemand zumuten, sich selbst retten zu müssen. Wir haben wie selbstverständlich die Erwartung, dass sich gut vorbereitete Helfer um die Betroffenen kümmern, sofort und professionell.

Bei Missbrauch ist das anders?

Ja. Die Opfer erwarten, dass der Staat sie nicht mit den Tätern allein lässt. Aber das ist geschehen. Die katholische Kirche hat die Taten jahrzehntelang aktiv vertuscht – und Täter geschützt.

Wie finden Opfer die Kraft, für sich zu kämpfen?

Für sich allein – und mit zufällig entdeckten Leidensgenossen.

Die Opfer kennen sich doch?

Nein, die Opfer sexuellen Missbrauchs in Institutionen sind genauso wenig eine geschlossene „Gruppe“ wie die Passagiere eines Kreuzfahrtschiffs. Alle Betroffenen haben gemeinsam, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren, sodass sie Opfer von Missbrauchstätern wurden. Daraus ergibt sich keinerlei Gruppenbildung. Die Betroffenen kennen einander größtenteils nicht und können auch keinen Kontakt zueinander aufnehmen. Schon gar nicht 35 Jahre nach der Tat.

Was können wir tun, damit die Betroffenen ihre Stimme wiederfinden?

Die Betroffenen benötigen eine unabhängige, vertrauenswürdige, professionell arbeitende Anlaufstelle. Sie muss die Meldungen der Betroffenen niedrigschwellig entgegennehmen – und nach wissenschaftlichen Kriterien auswerten, systematisch aufarbeiten und veröffentlichen.

Solche Stellen gibt es doch bei vielen Institutionen.

Ja, aber das geht nicht. Eine solche Anlaufstelle kann nicht eine Abteilung der „Täterinstitution“, etwa die katholische Kirche sein. Dies aber geschieht in Deutschland: Die Betroffenen werden an ihre eigenen Täterinstitutionen verwiesen – und mit ihnen alleingelassen. Würdeloser und ohnmächtiger kann man sich als erwachsenes Opfer eines Missbrauchs kaum fühlen.

Interview mit einem ehemaligen Canisius-Schüler, der sich für das Aufdecken der Missbrauchsfälle einsetzte.

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