Dancefloor begegnet Mode und Ballett: Footwork goes Feuilleton

Der Chicagoer Ghetto-Dancefloorsound Footwork ist in der Hochkultur angekommen. Das zeigen neuen Alben von Jlin, von DJ Mann und Heavee.

Mit Hut und Weste sitzt der Musiker Heavee an den Schaltpulten

Heavees Album „Unleash“ klingt manchmal wie ein Modem aus den Nullerjahren Foto: Sam Spiegel

Beim Boxen kann Footwork über Sieg oder Niederlage entscheiden. Gute Beinarbeit bedeutet, Balance halten zu können, den Raum auch am Boden optimal zu nutzen, Distanz zu Geg­ne­r*in­nen zu halten, gleichzeitig nah genug heranzukommen, um reaktionsschnell und präzise mit den Fäusten Hiebe setzen zu können. Kein K.O. ohne gute Footwork.

Voll auf die Zwölf geht es auch bei der elektronischen Tanzmusik, die als Footwork bezeichnet wird, nur, dass die Schläge nicht mit der Faust ausgeteilt werden, sondern aus der Drum Machine prasseln, und das mit irre hohem Tempo. Um eine mit HipHop-Elementen genährte Spielart von Ghetto-House handelt es sich bei Footwork, dem Sound, der in der West- und Southside von Chicago seine Ursprünge in den späten 1990ern hat.

Rhythmisch aufgeheizt, zusammengesetzt aus fiebrigen Beats – wir sprechen hier von 150 bis 165 Bpm – und repetitiven Samples. Wer auf Footwork tanzen will, braucht Ausdauer und eine trainierte Beinmuskulatur oder hat beides spätestens nach ein paar durchtanzten Nächten auf dem Dancefloor, wo die Musik zu irren Verrenkungen einlädt, als seien die Glieder aus Gummi und der Fußboden heiß wie eine Herdplatte. Eine hypnotische Wirkung hat das, akustisch wie visuell.

Ebenfalls als hypnotisierend, nur reiner, sanfter, vergleichbar aber darin, wie das Stilmittel der Repetition eingesetzt wird, könnte man die minimalistische Musik des US-Komponisten Philip Glass beschreiben. Seine endlosen Klavierläufe, Etüden, Streicher-Arrangements, in denen sich wieder und wieder die gleichen Motive aneinanderzureihen scheinen, minimalistische Tonfolgen, zurückgenommene Klangteppiche, die sich ausdehnen in Zeit und Raum. In denen man sich verlieren kann.

Jlin: „Akoma“ (Planet Mu/Rushhour)

DJ Manny: „Hypnotized“ (Planet Mu/Rushhour)

Heavee: „Audio Assault“ (Hyperdub/Cargo)

Dass auch Jerrilynn Patton das passiert ist, als Jugendliche, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter Stephen Daldrys „The Hours“ ansah, hat die US-Künstlerin, die sich Jlin nennt und deren Tracks gemeinhin mit dem hochenergetischen Footwork-Genre assoziiert werden, kürzlich dem britischen Onlinemagazin Mixmag erzählt. „The Hours“ ist ein Film, der sich auf unterschiedlichen Zeitebenen an Virginia Woolfs Roman „Mrs Dalloway“ annähert, in Variationen eben und mit sich wiederholenden Motiven – in gewisser Weise so, wie sich auch Werke von Glass aufbauen, der dazu den Soundtrack komponierte. Dieser habe sie mehr fasziniert als der Film, eine Obsession mit Glass' Musik habe sich daraus entwickelt.

Mit Philipp Glass und Dior

Einen Traum erfüllt hat sich Patton also, als sie Glass dafür gewinnen konnte, an ihrem neuen Album „Akoma“ bei einem Track mitzuwirken. Sie habe ihn gebeten, sich morgens nach dem Aufstehen ans Klavier zu setzen, irgendetwas zu spielen, es aufzunehmen und ihr zuzuschicken, berichtet sie. Das Ergebnis, „The Precision of Infinity“, kam bereits vorab heraus. Im Februar lief der Track bei der Schau von Maria Grazia Chiuris Kollektion für Dior Herbst / Winter 2024/25 in Paris.

Das unverwechselbare wasserfallartige Pianospiel Glass' im Kontrast zu sirrenden Drums, metronomartigen, immer wieder stolprig versetzten Beats, beides läuft gegeneinander, überholt und unterbricht sich. Tatsächlich untermalt der Track ziemlich gut die von den 1960er Jahren inspirierte Eleganz der Designs von Dior, deren fließende A-Linien in gedämpften Tönen und feinsten Stoffen. Besser womöglich als die Mode, die man in einem Club tragen würde.

Porträt von Jlin

Für die Footwork-Schublade eigentlich zu experimentell: Jlin Foto: Lawrence Agyei

Jerrilynn Patton, geboren 1987, ist quasi im Windschatten Chicagos aufgewachsen, in der 50 Kilometer entfernten Industriestadt Gary/Indiana, wo sie noch heute lebt. 2007 begann Jlin, Musik zu machen, inspiriert eben vor allem von Footwork. In dem 2014 viel zu früh verstorbenen DJ Rashad, einem Pionier des Genres, fand sie einen Mentor, er unterstützte sie noch bei der Realisierung ihres Debütalbums.

Ihr Talent erkannten bald auch andere. Als der Modedesigner Rick Owens sie 2014 mit dem Soundtrack für seine Modenschau in Paris beauftragte, weil ihn ihr Track „Erotic Heat“ begeistert hatte, arbeitete sie noch in einer Stahlfabrik.

2015 veröffentlichte sie dann das Debütalbum „Dark Energy“ und wurde als innovative Neuerfindung des Footwork-Genres gefeiert, „Black Origami“ folgte 2017, „Autobiography“ 2018. „Autobiography“ war das bislang letzte Album, das sie veröffentlichte, wenn man dieses überhaupt so nennen möchte, handelte es sich doch weniger um ein Solo, sondern um den Soundtrack für ein Ballett des britischen Choreographen Wayne McGregor. Auch Tanz, aber nicht solcher, für den man irgendwo die Nacht zum Tag macht, mehr Highbrow als Party.

Überraschende Zutaten

Zwischen diesen Polen bewegt sie sich seitdem, zwischen Feuilleton- und Clubpublikum. Sie produzierte zahllose Remixes für Künst­le­r*in­nen wie Marie Davidson, komponierte Musik für SOPHIE, arbeitete mit Björk. Für den Schwarzen US-Choreographen Kyle Abraham komponierte sie eine neue, eigene Variante von Mozarts Requiem. 2023 war sie für ihre Komposition „Perspectives“ für das Quartett Third Coast Percussion für den Pulitzer Preis nominiert.

Schon „Dark Energy“ war für die Footwork-Schublade eigentlich zu experimentell, Jlin braucht eher ein eigenes Genre. Jlintheinnovator.com lautet passenderweise die URL ihrer Website.

Wobei auch Footwork nicht auf der Stelle trabt. Interessante Neuerscheinungen jüngeren Datums stammen etwa von Heavee und DJ Manny, beide aus Chicago, beide ursprünglich Tänzer. DJ Manny knüpft mit „Hypnotized“, das im November bei Planet Mu veröffentlicht wurde, an sein Vorgängeralbum „Signals in my Head“ (2021) an, auf dem er den romantischen Part von Footwork entdeckte und R&B-Elemente in die Beatsuppe warf.

Porträt von DJ Manny, läuft einen Bahnsteig entlang

DJ Manny in der New Yorker U-Bahn Foto: Hyperdub

Überraschender noch sind die Zutaten, die er dieses Mal aneignet, wenn er sich in Jungle auf „Lost in da Jungle“ stürzt, oder vor allem – das ist das erstaunlichste Stück auf dem Album – eine Operndiva Arien gegen die Rhythmen ansingen lässt, wenn er wie Jlin also in hochkulturellen Gefilden wildert.

Flirt der Hochkultur mit dem Ghettosound

Heavees vor Kurzem bei Hyperdub veröffentlichtes Album „Unleash“ klingt indes mal wie ein Modem aus den frühen Nullerjahren, das sich übers Kabel ins Internet einwählt. Dann wieder mixt der er R&B, Rap, Jazz und Grime in die Wundertüte, lässt auf „SearchN 4“ die britische Musikerin BABii mit ätherischer Stimme singen und auf „Smoke Break“ den Multiinstrumentalisten Takayuka Nakamura auf der Trompete improvisieren.

Allein gelingt ihr der Spagat besser

Eigenwillige Interpretationen des Genres sind die Werke von Heavee und DJ Manny auch, nur geht Jlin in ihrem Sound noch einige Schritte weiter. Sie selbst hat ohnehin des Öfteren betont, sie würde sich nicht als linientreue Footwork-Künstlerin verstehen. Ganz frei von deren Einflüssen ist sie jedoch weiterhin nicht, unüberhörbar sind diese auf dem neuen Album, beim Track „Auset“ etwa oder auch auf „Iris“. Angemessen schnell schlägt das Herz auch sonst darauf. Das nämlich bedeutet der Titel. „Akoma“ ist das ghanaische Wort für Herz.

Eingeschlossen hat Jlin in jenes nicht nur Philip Glass. Auch Björk ist gleich beim Auftakt zu hören, Vocalsamples der isländischen Sängerin sind es – sehr dezent nur zu vernehmen allerdings –, das Kronos Quartet dann wiederum recht deutlich auf „Sodalite“. Nur mag da das Konzept nicht so recht aufgehen, zu erzwungen erscheint die Paarung zwischen den zweifellos grandiosen Streichern und den überhasteten Beats der Künstlerin. Die Elemente greifen nicht ineinander, Jlin verfranzt sich in den Untiefen zwischen U und E.

Allein gelingt ihr der Spagat besser. Auch auf „Summon“ dominieren Streichinstrumente den Sound, brummen wie ein wütender Bienenschwarm über die Drums hinweg, sie stacheln sich gegenseitig an, springen aufeinander drauf, schieben sich zu einem dichten Gewebe zusammen. Sperrig im positiven Sinne ist das.

Zwei Tracks später, auf „Open Canvas“, zeigt Jlin dann noch mal in Länge und Breite, was sie auf Lager hat, und versöhnt so vielleicht auch die, denen der Flirt der Hochkultur mit dem Ghettosound zu viel wird. Sie entführt in luftige Höhen, um dann wieder im euphorischen Sturzflug im tiefsten Clubkeller zu landen. Kompositorisch wie rhythmisch ist der Track voller Wendungen, eine Wucht, dafür braucht Jlin niemanden an ihrer Seite.

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