Debatte Brexit: Lernen von der Schweiz

Die Briten machen beim Brexit so gut wie alles falsch. Referenden sind gut, aber nicht heilig, wie das Beispiel der Eidgenossen zeigt.

Ein Mann im Schottenrock schwenkt eine schottsche Fahne. Er steht auf einer Wiese zwischen zwei großen Leuchtröhren, die die Buchstaben „Yes“ und „No“ abbilden, dahinter Wald

Volksabstimmungen sind gut, aber längst nicht der Weisheit letzter Schluss Foto: dpa

Der 9. Februar 2017 kam und ging, ohne dass viel passiert wäre. Eine der wichtigsten Nachrichten war, dass Isabella „Levina“ Lueen für Deutschland beim Eurovision Song Contest antreten wird.

Das unspektakuläre Ende des 9. Februar ist spektakulär, denn eigentlich sollte dieser Donnerstag Geschichte schreiben – und die Schweiz „einseitig“ alle Verbindungen zur EU kappen. Das hatte drei Jahre zuvor der Volksentscheid „Gegen Masseneinwanderung“ ergeben, der den Zuzug von EU-Bürgern begrenzen sollte. Doch die Schweizer Regierung hat dieses Volksvotum ignoriert und nur ein paar kosmetische Änderungen verabschiedet.

Die Schweiz ist ein lehrreiches Beispiel, wie man mit Volksentscheiden umgehen sollte. Basisdemokratie ist gut, aber nicht heilig. Das Volk kann sich irren oder seine Meinungen auch wieder ändern. Für die Schweizer ist diese Erkenntnis nicht neu, denn sie führen pro Jahr etwa elf Volksabstimmungen durch. Doch den Briten fehlt diese Erfahrung. Referenden sind bei ihnen höchst selten – und prompt machen sie den Fehler, diese Voten absolut zu setzen, obwohl sie rechtlich gar nicht bindend sind.

Die Ausgangslage war in der Schweiz und in Großbritannien ähnlich. In beiden Ländern glauben viele Wähler, dass der Zuzug von EU-Ausländern alle Probleme erklärt. Ob hohe Mieten, niedrige Löhne oder marode Krankenhäuser: immer sollen die Migranten schuld sein.

In beiden Ländern gingen die Referenden extrem knapp aus. In der Schweiz stimmten 50,3 Prozent dafür, die „Masseneinwanderung“ zu stoppen. In Großbritannien votierten 51,9 Prozent für den Brexit. Dieser Vorsprung ist eigentlich zu klein, um eine so dramatische Entscheidung blind durchzuziehen. Niemand auf der Insel weiß, welche wirtschaftlichen Folgen ein EU-Ausstieg hätte. Auch die britische Regierung hat zugegeben, dass sich die Kosten nicht beziffern lassen. Doch unbeirrt wird Premierministerin Theresa May am Mittwoch einen Brief nach Brüssel schicken, um die Scheidung zu beantragen.

Keine Korrekturen möglich

Aber es kommt noch schlimmer. Obwohl die Risiken nicht abzusehen sind, wird jede Korrektur von vornherein ausgeschlossen, wie May mit ihrem tautologischen Mantra „Brexit heißt Brexit“ klarmacht. Sie lässt keinen Raum für inhaltliche Manöver. Dieser Fehler wäre einer Schweizer Regierung nie passiert. Dort wird stets flexibel austariert – und im Zweifel nochmals abgestimmt. Zu allen wesentlichen Fragen gab es bereits mehrere Volksinitiativen in der Schweiz, und auch beim Thema Zuwanderung sind die nächsten Urnengänge schon abzusehen.

Die Schweiz macht es richtig: Regierung und Volk korrigieren sich gegenseitig. Trotz der vielen Volksabstimmungen ist die Schweiz eben nicht eine radikale Basisdemokratie, sondern hat ein gewähltes Parlament, in dem Berufspolitiker sitzen. Dahinter steht die Einsicht, dass die Wähler gar nicht das nötige Fachwissen besitzen können, um die Folgen von Volksabstimmungen im Detail zu über­blicken.

Zudem wissen die Schweizer, dass es „das“ Volk nicht gibt. Häufig ­stimmen die Deutschschweizer anders ab als beispielsweise die Italiener im Tessin. Eventuelle Mehrheiten im ­Gesamtstaat helfen also nicht weiter.

Auch für Großbritannien gilt, dass dort verschiedene Volksgruppen zusammenleben und dass Engländer, Schotten, Waliser und Nordiren mitnichten immer die gleichen Inte­ressen haben. So möchten die Schotten mehrheitlich in der EU bleiben, doch dieser Wunsch wird in West­minster ignoriert. Demokratie in Großbritannien heißt: Demokratisch ist, was die Engländer wollen. Das kann nicht gut gehen, denn es zwingt die Schotten, zu entscheiden, ob sie in Großbritannien oder in der EU bleiben.

Es ist an der Zeit, dass die Briten von den Schweizern lernen: Volksabstimmungen sind hilfreich – aber sie ersetzen nicht das Nachdenken im ­Parlament.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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