Debatte Veränderte Arbeitsmoral: Es gibt ein Recht auf Faulheit

Martin Schulz sagt, dass er die „hart arbeitende Bevölkerung“ gewinnen will. Er sollte sich lieber um die Faulen kümmern.

Martin Schulz vor riesigen SPD-Lettern

Haben einen eher verstaubten Begriff von Arbeit: Martin Schulz und die SPD Foto: dpa

Ich sitze am Laptop in der Küche, es ist mittags, ich habe eine Jogginghose an. Statt zu arbeiten, surfe ich auf Face­book. Oder ist das meine Arbeit? Jedenfalls spült das Internetrauschen ein Video von Martin Schulz auf den Bildschirm. Schulz spricht bei einem Wahlkampfauftritt. Das Video könnte gestern aufgenommen oder schon ein paar Wochen alt sein. Was Schulz sagt, ist zeitlos: Er kämpfe für die „hart arbeitenden Menschen“, für sie müsse es endlich gerechter zu gehen.

Hart arbeitende Menschen, das klingt erst mal gut, nach der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Aber wenn ich ehrlich bin, gehöre ich nicht dazu. Ich bin mal Freiberufler, mal arbeite ich in einer Redaktion. Selten fange ich vor halb zehn an zu arbeiten. Arbeiten heißt in meinem Fall auch: Das Internet leer lesen, Kaffee trinken, Geschichten ausdenken. Manchmal arbeite ich dann bis spät in den Abend. Am liebsten würde ich aber weniger arbeiten und mehr verdienen.

Ich weiß nicht, ob Martin Schulz auch an mich denkt, wenn er von den hart arbeitenden Menschen im Land spricht. Angesprochen fühle ich mich nicht. Ich bin gern faul. Und bin sicher: die anderen auch.

Etwas hat sich verändert in der Arbeitsmoral der Deutschen, und das hat Schulz, das hat die SPD nicht verstanden. Viele Menschen mögen ihre Arbeit. Aber noch lieber mögen sie: Samstag. Und wenn der Freitag wie ein Samstag ist.

Sein Leben nicht mehr der Arbeit opfern

Viele Jüngere aus der Generation XYZ (Lieblingsbuchstaben bitte hier einsetzen) wissen, dass sich das Glück nicht unbedingt unter dem Büroschreibtisch versteckt. Sie arbeiten 25 oder 30 Stunden, um Zeit zu haben. Nicht immer für die Familie. Sondern für Urlaub. Für Tage am See oder im Bett. In Schulz’ Welt kommen sie nicht vor. Sind sie faul – oder einfach nur müde?

Wenn Kliniken heute Hebammen oder Ärzte einstellen wollen, fragen die im Bewerbungsgespräch als Erstes: Wie viele Nachtdienste muss ich machen? Und Handwerksbetriebe finden keine Auszubildenden, weil nur wenige bereit sind, morgens um sechs Uhr auf der Baustelle zu stehen, um spätestens mit 55 Jahren berufsunfähig zu sein. Kaum einer will sein Leben noch der Arbeit opfern.

Dienst nach Vorschrift, das klang mal nach Yucca-Palme und Versicherungsfachangestellter. Zehn Jahre nach der Veröffentlichung von „Das unternehmerische Selbst“ von Ulrich Bröckling klingt Dienst nach Vorschrift attraktiv – und sogar subversiv.

Hart arbeiten, das ist heute nicht mehr so erstrebenswert wie in der alten Bundesrepu­blik. Seit dem letzten SPD-Kanzler hat sich die Arbeitswelt verändert, ist digitaler und produktiver geworden. Eigentlich sollten wir weniger arbeiten. Wenn Schulz über Arbeit spricht, riecht es aber immer noch nach Schweiß und klingt wie die Werkssirene. Und auch für jene Minderheit, die noch in der Industrie arbeitet, wäre ein Kandidat geeigneter, der sagt: „Ihr habt genug geschuftet. Ich will, dass ihr faul sein dürft.“

Es ist lange her, dass ein SPD-Kanzlerkandidat angetreten ist mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung. Dabei wäre eine Regelarbeitszeit von 30 Stunden machbar und gesellschaftlich wünschenswert. Stattdessen hofieren Politiker wie Schulz jene Menschen, die viel und hart arbeiten. Ob diese Arbeit sinnvoll ist oder nicht, spielt keine Rolle. Ob die Menschen bei der Arbeit krank werden, ihre Familien vernachlässigen, egal: Hauptsache, Arbeit.

Der Arbeitsfetisch

Keine der etablierten Parteien will den Arbeitsfetisch der Deutschen therapieren. Statt das Ehrenamt und Familienarbeit finanziell zu fördern, plant Kandidat Schulz, alte Arbeitslose in Qualifizierungskurse zu stecken. Dabei weiß jeder 55-Jährige, dass es sich bei diesen Veranstaltungen vor allem um Beschäftigungstherapie handelt.

Die Fixierung auf Erwerbsarbeit als Ziel aller Politik ist mehrfach problematisch. Zum einen wird nur eine bestimmte Art des Nichtstun bestraft: die Arbeitslosigkeit. An Hartz IV will Schulz und wollen die meisten Deutschen nichts ändern. Wer arbeitslos ist, ist selbst schuld und soll arm sein. Ich kenne Menschen, die Hartz IV bekommen und sich in politischen Gruppen und Flüchtlingsinitiativen engagieren. Diese Arbeit wird nicht honoriert.

Die SPD will jene unfreiwillig Faulen, die von Hartz IV leben, weiter bestrafen. Die Sanktionsmaschine, die Hunderttausende Gerichtsfälle nach sich zieht, soll weiter geölt werden.

Die SPD kümmert sich so pedantisch um diese vermeintlich Faulen, dass sie andere Faule gern vergisst: die Vermögensfaulen. Menschen, die faul sein können, ohne dafür gearbeitet zu haben. Mit traurigem Blick hat Arbeitsministerin Andrea Nahles den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vorgestellt. Aber die SPD plant nicht, diesen Faulen Papas Kreditkarte wegzunehmen.

Verstaubter Begriff von Arbeit

Schulz hat sein Mantra von den hart Arbeitenden noch in einem anderen Zusammenhang wiederholt, der besonders fragwürdig ist. Beim Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen formulierte er sein Ziel für die Bildungspolitik: Es gehe darum, dass Kinder hart arbeitender Menschen die gleichen Chancen hätten wie Kinder von Professoren.

In Frankreich wird gewählt. Für Europa geht es um viel. Die taz.am wochenende vom 22./23. April setzt auf europäische Freundschaft – und hat die KollegInnen der französischen Libération eingeladen, die Zeitung mitzugestalten. Außerdem: Smartphones im Unterricht? Da kriegen manche Lehrer Ausschlag. Aber ist es vielleicht trotzdem die Zukunft? Ein Gespräch mit Schauspieler Tom Schilling über Krawatten und Mitte-30-Sein. Und: Philipp Maußhardt vereint die englische und die spanische Küche. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Das ist doppelt absurd. Man könnte zunächst fragen, ob es nicht auch den ein oder anderen Professor gibt, der hart arbeitet. Vielleicht glaubt Schulz, dass Professoren nur auf dem Sofa sitzen und ihre Bücher zählen. Zudem hat Schulz bisher nicht angekündigt, Gutverdiener wie Professoren und Vermögende härter besteuern zu wollen, der Gerechtigkeitswahlkampf ist bisher Rhetorik.

Schulz’ Begriff von Arbeit ist so alt, dass man den Staub von seinen Forderungen pusten muss. Aber wenn der ehemalige Buchhändler sich im Wahlkampf schon gern an Klassikern orientiert, sollte er doch mal weiter hinten in sein Bücherregal schauen. Dort steht bestimmt auch „Das Recht auf Faulheit“. Paul Lafargue hat das Buch 1880 geschrieben.

Lafargue kritisiert darin die „Arbeitssucht“, die „Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht.“ Auf Deutsch erschien es zuerst in einer Zeitschrift, deren Titel Schulz gefallen könnte.

Sie heißt: Sozialdemokrat.

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Kersten Augustin leitet das innenpolitische Ressort der taz. Geboren 1988 in Hamburg. Er studierte in Berlin, Jerusalem und Ramallah und wurde an der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München ausgebildet. 2015 wurde er Redakteur der taz.am wochenende. 2022 wurde er stellvertretender Ressortleiter der neu gegründeten wochentaz und leitete das Politikteam der Wochenzeitung. In der wochentaz schreibt er die Kolumne „Materie“. Seine Recherchen wurden mit dem Otto-Brenner-Preis, dem Langem Atem und dem Wächterpreis der Tagespresse ausgezeichnet.

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