Die Wahrheit: Das Grauen im Quadrat
Es steht mir höchstwahrscheinlich auf der Stirn geschrieben, dass man mich mit seiner Lebensgeschichte langweilen darf.
Es steht mir höchstwahrscheinlich auf der Stirn geschrieben, dass man mich mit seiner Lebensgeschichte langweilen darf. Wildfremde Menschen erzählen mir ungefragt ihre Vitae oder ihre Urlaubserlebnisse – eine verbale Diashow, die zermürbend ist. Der Taxifahrer in Berlin verband neulich beides: das Grauen im Quadrat.
Ich war zum Essen eingeladen, hatte aber die Zeit vertrödelt, so dass ich es mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mehr rechtzeitig von Kreuzberg nach Charlottenburg schaffen konnte. So winkte ich ein Taxi heran. Der Fahrer sprach mit ausländischem Akzent, und ich beging den folgenschweren Fehler, ihn zu fragen, wo er herkomme. Er legte los, als ob er seit Jahren auf diese Frage gewartet hatte.
Er komme aus Kroatien, sagte er, und damit hätte er es bewenden lassen können. Doch es drängte ihn, mir zu erzählen, wie er in Berlin gelandet ist. Im Grunde hätte er die Sache in vier Sätzen abhandeln können: Er hatte im Urlaub in Dubrovnik eine Deutsche am Strand getroffen und sie zum Tanzen eingeladen. Vor ihrer Abreise tauschten sie Adressen aus. Später lud sie ihn nach Berlin ein, und so begann eine Affäre, die drei Jahre anhielt. Dann warf sie ihn hinaus.
Der Taxifahrer begnügte sich aber nicht mit der Kurzfassung. Er gab die Gespräche wieder, die sie vor mehr als 50 Jahren geführt hatten, und er beschrieb die Tänze, die sie damals getanzt hatten. Doch irgendwann musste sie zurück nach Berlin. Nun zitierte der Kutscher den Briefwechsel, an den er sich nach so langer Zeit erstaunlich gut erinnerte. Da könne man doch glatt ein Buch draus machen, meinte er. Ich sei ein legasthenischer Landschaftsgärtner, murmelte ich verzagend.
Er war inzwischen bei den Vorbereitungen seiner Berlin-Reise angelangt. Am Ernst-Reuter-Platz dämmerte ihm, dass er seine Geschichte bis zum Fahrtziel nicht zu Ende bringen würde. Also sprach er immer schneller, fuhr aber immer langsamer. Auf Höhe der Deutschen Oper kam er an die Stelle, an der er 1961 an der Wohnungstür klingelte. Wie groß war die Wiedersehensfreude!
An der Schlossstraße – wir fuhren längst Schritttempo – wollte er heimlich vorbeifahren, doch es gelang mir in letzter Sekunde, ihn zum Abbiegen zu überreden. Er senkte seine Stimme und beschrieb, wie seine Bekannte eines Nachts in seinem Gästezimmer auftauchte und den Bademantel abstreifte. Die Details wollte ich nun wirklich nicht hören. Ich bat ihn, mich aussteigen zu lassen. Die letzten hundert Meter würde ich schneller zu Fuß schaffen.
Er hielt mitten auf der Kreuzung, stieg aber ebenfalls aus und erzählte mir jetzt doch die Einzelheiten jener Nacht. Wenn ich bloß nicht so gut erzogen wäre! Ich hörte geduldig zu, bis ein Auto kam, so dass mein Taxifahrer die Kreuzung räumen musste. Ich verabschiedete mich hastig, aber das war voreilig. Die Schnattertasche fuhr bis zur Haustür mit heruntergekurbelter Scheibe neben mir her und erzählte, wie seine Freundin ihn drei Jahre später hinausgeworfen hatte. Die Dame hat nachträglich mein vollstes Verständnis.
Die Wahrheit auf taz.de