Die Wahrheit: Am Tellerrand des Tinnitus

Die Norwegen-Woche der Wahrheit: Black Metal ist Grieg im Lande der ebenso dunklen wie extrem lauten Nordmusik.

Urväter des Black Metal: Das Stromsgodset Musikkorps gibt den hämmernden Nordton vor Foto: reuters

Die Geschichte der norwegischen Musik ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Beispielsweise missverstehen viele fremdländische Hörer die in vielen Liedern auftauchenden Zeile „Graaaaaaaaahhhh“ als „Graaaaaaaahhhh“ (mit nur acht a’s). Andere verwechseln den Musiker mit den langen Haaren mit dem anderen mit den langen Haaren. Um Aufklärung über die komplexe norwegische Musikszene zu schaffen, hat das Ministerium „Departement for Svartmetalet, Drumstickering og Trollhammeren“ auf der Frankfurter Buchmesse einen Stand aus kokelnden Holzbrettern, menschlichen Knochen und blutverschmierten Kleiderfetzen aufgebaut.

Messebesucher, die es tatsächlich schaffen, trotz des ohrenbetäubenden Lärms bis zu der freundlichen Regierungsvertreterin, die den Stand betreut und nebenbei heißen Met in Elchschädeln ausschenkt, vorzudringen, werden mit erstaunlichen Fakten belohnt.

„Unsere Musik ist mehr als nur Gekreische“, lächelt die Beamtin, „es gibt auch Gegrunze, Gebrülle, Gebelle und diese epische Mid-Tempo-Passage in dem Stück ‚Mighty Ravendark‘ auf Immortals letztem Album ‚Northern Chaos Gods‘. Lauschen Sie mal!“

Der Zugang zu dieser offenbar sehr komplexen Welt fällt dennoch den meisten schwer. Warum ist das so? „Nun gut, da steckt durchaus Kalkül drin“, gibt die Frau vom Ministerium zu. „Unsere Regierung hat vor einigen Jahren eine sogenannte Abschreckungsquote eingeführt, nach der 30 Prozent aller hier produzierten Lieder extrem düster und abstoßend klingen müssen – damit wir nicht jedes Jahr das glücklichste Land der Welt sind; das wird schließlich irgendwann peinlich!“

Prüfung durchs Gesundheitsamt

Der außergewöhnliche Messestand bietet in den folgenden Tagen ein abwechslungsreiches Programm an. Nicht nur Livekonzerte sind anberaumt – Mittwoch zwölf Uhr: Dødheimsgard, im Anschluss: die Dimmu-Borgir-Coverband „Bimmu Dorgir“ aus Bergen (Frankfurt) –, sondern auch Vorträge wie „Mein Leben nach dem Hörsturz“ sowie Podiumsdiskussionen wie „Maultrommeln – das letzte Tabu?“, „Darkthrone-Lyrics im Kontext der norwegischen Sozialpolitik seit 1990“ und „Ist Satan heute noch zeitgemäß?“. Für die ganz Hartgesottenen soll am letzten Messetag eine Abschlusslesung aus dem Werk Karl Ove Knausgårds stattfinden, für deren Genehmigung allerdings noch eine Prüfung durch das Gesundheitsamt ansteht.

Kinder lernen mindestens einhundert Synonyme für „Tod“

Auch die Kleinsten kommen auf ihre Kosten, denn „in Norwegen beginnt die musikalische Früherziehung, sobald unsere Kinder zum ersten Mal die Sonne gesehen haben, also spätestens im vierten Lebensjahr“, wie es in einer offiziellen Broschüre auf gegerbter Schweinehaut heißt. Für den Musikunterricht ziehen sich die Schülerinnen und Schüler spezielle Uniformen an, die über Nacht im Waldboden vergraben werden, und lernen die Grundzüge der Kultur ihres Landes: Runenkunde, Lurenspiel und mindestens einhundert Synonyme für „Tod“.

Hier am Stand können sich junge Messegäste das Gesicht mit Corpse-Paint bemalen lassen, dürfen (unter Aufsicht der Eltern!) Miniatur-Stabskirchen anzünden und in einer Variation von „Steck dem Esel den Schwanz an“ eine Puppe in Gestalt des Mayhem-Sängers Euronymous mit einem Spielzeugmesser abstechen. „Ja, das mag Ihnen zunächst grausam erscheinen“, räumt die Standbetreuerin ein. „Aber wissen Sie, was mir grausam erscheint? Die Zwänge der Europäischen Union!“

Klassiknation mit Kitsch

Wie ist es um die klassische Musik im Heimatland der härteren Töne bestellt? Ein Name wird für alle Zeiten mit Norwegen verbunden bleiben: Edvard Grieg – „wobei es freilich noch jede Menge anderer Komponisten gab und gibt“, wie ein Kulturattaché sich anschickt zu betonen. In seiner Rede mit dem Titel „Bitte, bitte reduziert uns doch nicht immer auf die beschissene Halle des Bergkönigs!“, erklärt der Klassik-Kenner: „Wenn Sie in einschlägige Verzeichnisse norwegischer Komponisten blicken, entdecken Sie schillernde Namen wie Carsten Carlsen und Ole Olsen … okay, die sind größtenteils ausgedacht, aber wir hätten es als Klassiknation auch so zu etwas bringen können. Außerdem wäre moderner Filmsoundtrack-Kitsch à la Danny Elfman ohne Grieg undenkbar!“

An der Musikhochschule Trondheim, deren Leiter auf einem alten Wikingerschiff nach Frankfurt gereist ist, um Studenten aus dem Ausland anzuwerben, kann man wiederum ab kommenden Semester Einblicke in sämtliche Musikrichtungen der Menschheitsgeschichte gewinnen. „Es ist ja erschreckend, wenn ich junge Leute treffe, die Atmospheric Blackened Doom Metal nicht von Atmospheric Blackened Death Metal unterscheiden können“, seufzt der 60-jährige Professor für Symphonischen Krach, „doch genau so wichtig ist es, auch über den Tellerrand, sprich: über unsere herrlichen Fjorde hinauszuschauen. Manche Erstsemester sind völlig baff, wenn ich ihnen Lieder vorspiele, von denen man keinen Tinnitus bekommt.“

Ein Aspekt der norwegischen Musik darf freilich auch auf der Buchmesse 2019 in Frankfurt am Main nicht unerwähnt bleiben: das unangenehme Kapitel Nationalsozialistischer Black Metal (NSBM). „Dazu wollten wir eigentlich eine differenzierte Gesprächsrunde organisieren“, sagt die Ministerialbeamte, „aber dann hat ein gewisser Antaios-Verlag die geladenen NSBM-‚Künstler‘ für ein Forum mit dem Titel ‚Feine Sahne Fischfilet sind auch schlimm!‘ abgeworben. Was will man machen?“ Am besten depressiv werden. Auch dafür gibt es spezielle Metal-Subgenres.

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