Die Wahrheit: Auf dem Surrealistenball

Selbst in den Höhlen der Steinzeit gab es bereits die Angst, etwas zu verpassen. Und was heute erst alles verpasst werden kann – furchterregend!

Schon Jahrmillionen vor der letzten Pandemie gab es FOMO, die Fear Of Missing Out, also die Angst, etwas zu verpassen. Wenn sich in der Kupfersteinzeit in einer Tisenjoch-Höhle in den Ötztaler Alpen ein Vater um ein brüllendes Kind kümmern musste, dachte der beim Schaukeln wahrscheinlich: Und die anderen klettern schön in der Sonne herum und schießen Alpensteinböcke. Nur ich sitze hier und lasse mich vollschreien.

Zeitgleich vermuteten die Jäger, dass die Drinnenbleiber zusammen ihre gemütliche Höhlensause genießen, während sie selbst von wilden Schweinen verfolgt werden und überhaupt nicht zum Quatschen kommen.

Dabei nützt einem der leckerste Steinbock nix, wenn man eh kaum kauen kann: Der Ötzi hatte Karies, Parodontose und einen abgestorbenen Frontzahn, sein gesamtes Gebiss war abgenutzt, weil das Getreide im Neolithikum mit Mahlsteinpartikeln versetzt war.

Man steckt eben nie drin. Und später wurde es nicht anders: Schaute man im Mittelalter nicht bei der Hexenprobe zu, hatte man das Dorf-Highlight der Woche verpasst; sah man zu, konnte man nicht mit dem eigenen Coven feiern.

Dass es unter Hexen FOMO gab, beweist auch Otfried Preußlers „Die kleine Hexe“: Unbedingt will das 127-jährige Küken auf den Blocksberg, um mit den anderen Hexen herumzufliegen, weil es denkt, das sei der größte Spaß auf Erden. Dabei muss man nur die Stimmen der Muhme Rumpumpel und der Oberhexe hören, um zu begreifen, dass das Feiern mit den beiden ungefähr so unterhaltsam ist wie Baustellen-Schleifgeräusche um sechs Uhr morgens neben dem Schlafzimmer. Da ist die kleine Hexe mit ihrem Kumpel Abraxas viel besser bedient.

Es hat mich mehrere Büschel graue Haare gekostet, bis ich meine retrospektive FOMO wegen der von mir verpassten Party in den vierziger Jahren, auf der Eroll Flynn (damaliger Slogan: „In like Flynn“) mit seinem Schwanz „You are my sunshine“ auf dem Klavier angestimmt hatte, endlich ablegen konnte. Stattdessen bin ich jetzt retrospektiv oft traurig, dass ich nicht auf den „Bal surréaliste“ gehen konnte, den Marie-Hélène de Rothschild 1972 ausrichtete und für den der Dresscode „Black Tie, Abendkleid, surrealistische Köpfe“ lautete.

Die Gastgeberin selbst trug damals einen mit diamantenen Tränen geschmückten Hirschkopf zum pelzbesetzten Seidenkleid, mehrere Gäste, darunter Audrey Hepburn, hatten sich opulente Käfige aufgesetzt und tranken und aßen durch die geöffnete Tür.

Vielleicht muss man das mit der FOMO so halten wie Tom Sawyer in der Geschichte mit dem Gartenzaun: Auf einen Surrealistenball gehen, das kann man jeden Tag. Aber für einen Hungerlohn darüber aus einem verstaubten, lauten Schmuddelbüro zu schreiben … da tauche ich wie Tom Sawyer meinen Pinsel ein und sage beiläufig wie er: „Viel­leicht ist’s ’ne Arbeit, vielleicht auch nicht! Ich weiß nur, dass es mir Spaß macht.“ Mal sehen, wer das glaubt.

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kari

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