Evakuierungen aus ostukrainischer Stadt: Ausharren bis zuletzt

Kupjansk steht unter russischem Dauerbeschuss. Nur zögerlich lassen sich die Menschen dort rausholen. Unser Autor begleitete einen Helfer.

Ein älterer Mann sitzt in einem Rettungsfahrzeug. Ein Rot-Kreuz-Helfer steht draußen und zeigt mit dem Finger in Richtung des Fahrzeuginnenraums

Der 74-jährige Wladimir Babitsch muss bei seiner Evakuierung seine zwei Hofhunde zurücklassen Foto: Juri Larin

KUPJANSK taz | Kupjansk, eine Stadt in der Ostukraine, liegt dieser Tage unter Dauerbeschuss russischer Truppen. Igor Klymenko vom Roten Kreuz und sein Team sind auf dem Weg dorthin, um Menschen zu evakuieren. Schon aus der Ferne, von der Autobahn aus, sind große Brände nördlich und südlich von Kupjansk zu sehen. In der Stadt bietet sich ein überraschendes Bild: Auf der Straßen sind viele, vor allem junge Menschen unterwegs; sie sind auf dem Weg zur Arbeit oder gehen spazieren. Kupjansk scheint noch nicht vollständig verstanden zu haben, was gerade vor sich geht, oder weigert sich, es zur Kenntnis zu nehmen.

Die Stadt Kupjansk liegt 120 Kilometer östlich von Charkiw in Richtung der Verwaltungsgrenze zum Gebiet Luhansk. Von Kupjansk bis zu den nächstgelegenen russischen Stellungen sind es etwa 10 Kilometer, was bedeutet, dass sich der gesamte Ballungsraum Kupjansk (Petropawliwka, Kupjansk-Uzlovoi, Kiwschariwka, Kuryliwka und kleinere Dörfer) in der Kampfzone von Artillerie und Panzern befindet.

In den vergangenen Tagen ist die russische Armee aktiver geworden: Die Truppen versuchen, die Stellungen der ukrainischen Verteidigungskräfte in den Gebieten der Dörfer Synkiwka, Petropawliwka und Iwaniwka nahe Kupjansk zu durchbrechen. Fast ständig greifen sie mit Artillerie an und bombardieren Siedlungen. Vor der russischen Invasion lebten in Kupjansk und den umliegenden Dörfern etwa 60.000 Menschen. Davon sind nur noch rund 12.000 übrig geblieben. Und die Bevölkerung nimmt weiter ab.

Diese Woche wurde eine obligatorische Evakuierung der an der Front gelegenen Siedlungen angekündigt. In den kommenden Tagen wird höchstwahrscheinlich die Zwangsevakuierung von Kindern aus den Siedlungen in der 10 Kilometer langen betroffenen Zone, darunter auch aus Kupjansk, bekanntgegeben. Nach offiziellen Angaben leben derzeit 523 Kinder in Kupjansk.

Igor Klymenko sagt, dass die Zahl der Evakuierungsanfragen aus dem Raum Kupjansk diese Woche deutlich zugenommen habe. An diesem Tag sollen 18 Personen herausgeholt werden – Bewohner der Dörfer Petropawliwka, Podily, Kindraschiwka, Kiwschariwka, Kupjansk-Wuslowyj und der Stadt Kupjansk.

„Meine Mutter sagt immer, dieser Krieg sei grausamer“

Der freiwillige Helfer räumt ein, dass die Leute nur ungern gingen, solange sie nicht selbst unter Beschuss gerieten. „Sie lehnen das ab, doch wenn es losgeht, können wir darauf keine Rücksicht mehr nehmen. Außerdem ist es es vorgekommen, dass wir einen Evakuierungsauftrag für drei Personen hatten, es dann aber acht waren“, sagt Igor. Im selben Moment beginnt ein erneuter Angriff auf Kupjansk mit Mehrfachraketenwerfersystemen.

Einheimische sagen, dass es angeblich gerade in der Nähe der Zuckerfabrik eingeschlagen habe – die befindet sich in der ehemaligen Frunze-Straße am linken Ufer des Flusses Oskil. Aus dieser Gegend wurden erst vor 25 Minuten mit einem Privatfahrzeug zwei Frauen herausgeholt: die 95jährige Raisa Ljaschenko und ihre 72jährige Tochter Klawdija Babitsch. Dazu noch drei Katzen und Asa, ein Hund.

Eine hochbetagte Frau mit Stock und Habseligkeiten wird von einem Rot-Kreuz-Helfer begleitet

Die 95-jährige Raisa Ljaschenko wird aus Kupjansk evakuiert Foto: Juri Larin

„Der Beschuss ist stärker geworden. Es wird sehr oft geschossen. Jede Stunde mit „Grad“-Raketen oder etwas anderem“, sagt Klawdija Babitsch.

Die 95-jährige Raisa Ljaschenko wird gefragt, wie sich dieser Krieg vom Zweiten Weltkrieg unterscheide, den sie ebenfalls miterlebt hat. An ihrer Stelle antwortet die Tochter: „Meine Mutter hört fast nichts mehr. Aber sie sagt immer, dieser Krieg sei grausamer, er sei schrecklich.“ Klawdija Babitsch merkt an, dass sie, ihre Mutter und ihr Ehemann während der Besetzung von Kupjansk im Jahr 2022 nicht weggegangen seien. Doch jetzt hätten ihre Kinder und Enkel sie überredet, ihre Heimatstadt zu verlassen.

Die Frau ist überzeugt, dass die Russen, wenn sie die Siedlung ein zweites Mal einnehmen, sich an den Einheimischen rächen werden. Denn die hätten vor allem die Ukraine unterstützt. „Sie werden Menschen vernichten, wenn sie hierher kommen. Sie werden auch uns töten. Sie verschonen niemanden. Ja, und mein Schwiegersohn sagt: „Mama, geh, dann werde ich ruhiger sein“, sagt sie noch und fügt hinzu, dass der Mann ihrer Tochter jetzt gegen die Russen kämpfe.

Klawdija Babitsch erzählt, dass ihre Tochter in Charkiw sei. Sie habe die Freiwilligen gefunden, die bei der Evakuierung helfen. Da klingelt das Telefon, es ist die Tochter. „Ja, Lenochka, wir gehen, Töchterchen. Wohin? Ich weiß es nicht, ich kenne den Weg nicht.“ Die Verbindung bricht ab. Sowohl Klawdija Babitsch als auch Raisa Ljaschenko wollen sofort nach Kupjansk zurückzukehren, wenn der Beschuss aufhört.

Jetzt geht es weiter zu einer anderen Adresse, um den Ehemann von Klawdija, den 74-jährigen Wladimir Babitsch, zu evakuieren. Der Mann bindet zwei Hofhunde los und verspricht bald zurückzukommen. Zwei Kätzchen nimmt er mit, Haushaltsgegenstände und etwas Futter.

Der Rentner erzählt von dem heftigen Beschuss am Vortag und zeigt mit der Hand, wo die Häuser zerstört wurden: „Wahrscheinlich sind die Russen durchgebrochen. Auch unsere Schützenpanzer sind hierher gekommen, sie haben mit Maschinengewehren gefeuert, das hat die halbe Nacht gedauert. Seit mehr als zwei Wochen werden Raketen abgefeuert. Hier wurde ein Haus beschädigt, ein zweites und ein drittes“, sagt er.

Wladimir Babitsch ist davon überzeugt, dass die Russen aufgrund seines Eisenbahnknotenpunkts die Rückeroberung von Kupjansk planen. „Sie brauchen Kupjansk unbedingt. Weil es eine Eisenbahn von Waluiki aus Russland und direkt in den Donbass, nach Luhansk und Donezk gibt. Aber der Fluss ist ihnen im Weg“, sagt er. „Es ist schade, alles zurückzulassen und irgendwohin wegzugehen. Ich habe hier 74 Jahre gelebt. Ich bin hier geboren, habe ehrlich gearbeitet und bin dann in Rente gegangen“, seufzt Wladimir Babitsch und schließt das Tor.

„Jede Minute wird geschossen“

Die 68-jährige Sophia, der bettlägerige 83-jährige Jewgeni und die 78-jährige Anna, die eine Behinderung hat, sind gerade aus Podily evakuiert worden. Das Dorf steht unter gnadenlosem Beschuss. „Jede Minute wird geschossen. In der Nähe unseres Hauses verläuft eine Autobahn nach Russland. Von Luhansk nach Petropawliwka und dann weiter durch unser Dorf. Bomben werden geworfen, die Fenster sind herausgeflogen. Mein Haus ist völlig zerstört. Das Haus haben wir mit meinem Großvater gebaut“, sagt Sophia und weint. Sie wird in Charkiw von ihrer Nichte aufgenommen. Die anderen beiden werden in medizinische Einrichtungen gebracht.

Es ist nicht das erste Mal, dass die 43jährige Wita aus Kupjansk-Uzlovoy vor dem Krieg fliehen muss. 2014 verließ sie Luhansk, als die Russen kamen, und hat die vergangenen acht Jahre hier gelebt. „Schrecklich. Vorgestern gab es neben uns einen Luftschlag, der Putz ist von den Wänden gefallen. Das war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich habe beschlossen zu gehen. Ich bin schon mehrmals gegangen und zurückgekommen. Ich habe als Sozialarbeiterin gearbeitet und jetzt 90 Tage unbezahlten Urlaub beantragt“, sagt sie.

Wita sagt, dass sich ihr Gesundheitszustand aufgrund der ständigen nervösen Anspannung stark verschlechtert habe. Auch andere Bewohner von Kupjansk-Uzlovy, von denen es immer noch viele gebe, lebten in ständiger Angst. „Selbst diejenigen, die optimistisch waren, geraten jetzt in Panik. Die Frauen weinen alle. Ich denke aber, dass die Russen nicht hereingelassen werden, ich glaube an unsere Jungs“, sagt sie.

Igor Klymenko sagt, dass eine Evakuierung zwar obligatorisch sei, eine Person dies jedoch ablehnen könne. Er verstehe nicht, worauf die Bewohner in Dörfern wie Podily oder Petropawliwka warteten, wo sich die Sicherheitslage vor etwa einer Woche doch dramatisch verschlechtert habe. „Petropawliwka und Podily sind Orte, an denen ständig geschossen wird, es macht keinen Sinn, dort auszuharren. „Als wir jetzt gefahren sind, brannten der Wald und das Dorf“, sagt Klymenko.

Angaben von Oleg Sinegubow, Leiter der regionalen Polizeibehörde Charkiw, zufolge wurden vom 10. bis 11. August 63 Personen aus der Richtung Kupjansk evakuiert, darunter neun Kinder.

Bisher werden die Menschen nur nach Charkiw gebracht, eine Evakuierung nach Poltawa, Riwne, Schytomyr und in andere Regionen der Ukraine ist jedoch möglich. Die Unterbringung erfolgt in Wohnheimen der Universitäten. Dort gibt es 3.500 Plätze, aber diese Zahl kann schnell auf 16.000 erhöht werden. Bereits am kommenden Montag beginnt die Zwangsevakuierung von Menschen aus elf weiteren Dörfern an der Frontlinie.

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

Der Autor war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

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