Feministische Autorin Tillie Olsen: Vom Schweigen in der Literatur

Die Autorin Tillie Olsen nahm viele ganz aktuelle Diskussionen über weibliches Schreiben vorweg. Endlich wird sie auf Deutsch entdeckt.

Porträt der Schriftstellerin Tillie Olsen

Tillie Olsen, hier in ihren Sechzigern, auf einem Familienfoto Foto: Julieoe/Wikimedia Commons

„Es gibt so viel Ungeschriebenes, das noch geschrieben werden muss“ – in diesem Satz verdichtet sich das große Anliegen der Schriftstellerin Tillie Olsen, die 1912 als Tochter russisch-jüdischer Einwanderer in den USA, Nebraska, geboren wurde und 2007 starb: den Stimmen nachzugehen, die nicht zum literarischen Ausdruck finden; die Gründe und Funktionsweisen des Ausschlusses offenzulegen, den verschiedenen Arten des Schweigens und Zum-Schweigen-gebracht-Werdens nachzuspüren – und sich für eine Literatur einzusetzen, die alle Erfahrungen und Perspektiven in einer Gesellschaft abbildet.

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Unter dem Titel „Was fehlt. Unterdrückte Stimmen der Literatur“ sind ihre in den USA erstmals 1978 veröffentlichten Essays nun in deutscher Übersetzung zugänglich. Zu entdecken ist eine klarsichtige, genaue Beobachterin gesellschaftlicher Verhältnisse und des Literaturbetriebs, eine belesene Kennerin der Literaturtradition, vor allem im englischsprachigen Raum, und eine Autorin, die ihrer Zeit voraus war.

Vier große Essays versammelt der Band, die sich stark aufeinander beziehen, sich ergänzen, Themen vertiefen. Dabei bildet „Das Schweigen in der Literatur“ so etwas wie den Urtext, er basiert auf einem Vortrag von 1962.

Schon hier beschäftigt Olsen die Frage nach den Bedingungen schöpferischen Schaffens, beschreibt sie verschiedene Arten des Schweigens: „Bald ist es das jahrelange Schweigen anerkannter Größen der Literatur, […] manchmal das Verstummen, nachdem ein Werk erschienen ist; manchmal die Tatsache, dass es gar nicht zu einer Veröffentlichung in Buchform kommt. […] [Ich] verspürte im Laufe der Jahre das Bedürfnis, alles darüber zu lernen, was ich in Erfahrung bringen konnte, blieb ich doch selber fast stumm und musste die Schriftstellerin in mir wieder und wieder töten.“

Tillie Olsen: „Was fehlt“. Aus dem Englischen von Nina Frey und Hans-Christian Oeser. 350 Seiten, 22 Euro.

„Ich steh hier und bügle“. Aus dem Englischen von Adelheid Dormagen und Jürgen Dormagen. 152 Seiten, 20 Euro.

Beide Aufbau-Verlag, Berlin 2022

Ihr Wunsch zu schreiben

Olsen hatte die Schule ohne Abschluss verlassen, sich schon früh politisch, gewerkschaftlich engagiert; wurde Mutter von vier Töchtern und war meist auf eine Erwerbsarbeit in Vollzeit angewiesen, kannte also selbst viele Arten der Verhinderung ihres Wunsches zu schreiben.

Die Mutterschaft, die mit ihren Anforderungen einer Kontinuität grundlegend zuwiderlaufe, die für das Schreiben nötig ist, spielt daher schon 1962 eine wichtige Rolle. Lange vor dem Einzug feministischer Literaturtheorie, -wissenschaft und -kritik benannte sie eine für Frauen grundlegend andere gesellschaftliche Situation: die Fast-Unmöglichkeit, Schreibende und Mutter zu sein.

Nicht nur aufgrund wirtschaftlicher Zwänge und der Sorgearbeit, sondern auch, weil Schriftstellerinnen noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mit der Ansicht konfrontiert wurden, Frauen hätten weder das Bedürfnis noch die Fähigkeit, „Kunst zu schaffen, weil sie Kinder ‚schaffen‘ können“.

Wenig Frauen im Kanon

In den folgenden ab 1971 entstandenen Texten spürt man einen veränderten Ton, getragen von den inzwischen durch feministische Ansätze gewonnenen Erkenntnissen. In „Eine von zwölf“ legt sie unter anderem dar, wie viel weniger Frauen in Lektürekanons, Anthologien, Schullektüren, Bestenlisten, Besprechungen vorkommen – und wie und warum sich dies fortschreibt; wie voreingenommen meist männliche Kritiker gegenüber Themen und Stil von Autorinnen sind: Einerseits gelten Themen nicht als literaturwürdig, darunter alles, was mit Mutterschaft, dem weiblichen Körper zu tun hat; andererseits wird Frauen abgesprochen, überhaupt in der Lage zu sein, über „ ‚das große Ganze‘, [das] Politische, [das] Soziale“ zu schreiben.

Hier kommt man nicht umhin, die Aktualität dieser Aspekte zu betonen. Man lese zum Beispiel Nicole Seiferts Buch „Frauen Literatur“ von 2021 – und reibe sich die Augen angesichts dessen, was sich zu wenig verändert hat. Aber auch Julia Wolf legt kluge Fäden diesbezüglich in ihrem Vorwort zu Olsen.

Auch die anderen „Stimmenunterdrücker der Menschheit, Klasse und/oder Hautfarbe“, hat Olsen im Blick. In „Dem Schweigen auf der Spur“ greift sie die Diskriminierung Schwarzer Autorinnen und Autoren sowie die Bedeutung ökonomischer Bedingungen und der Bildung auf, kritisiert die Einengung auf die heterosexuelle Perspektive. Und betont, dass die Kategorien ineinandergreifen – ein früher intersektionaler Ansatz also.

Moderne Mehrstimmigkeit

Was die Lektüre zudem so anregend macht, ist die Methode Olsens: Sie ruft viele Au­to­r*in­nen vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts auf, um ihre Gedanken zu stärken, zu bezeugen. Von den Brontë-Schwestern über Kafka und Virginia Woolf bis zu Margaret Atwood – aus Tagebüchern, Briefen und Werken werden sie, aber auch viele weniger bekannte zitiert, und so schreiben sie den Text mit, entsteht eine modern anmutende Mehrstimmigkeit.

In gewisser Weise setzt Olsen hier, im Rahmen des Möglichen, ihre emphatisch vorgetragene Idee einer Literatur um, in der alle Stimmen mit ihren Erfahrungen zum Ausdruck kommen.

Die Essays sind eine literarische Fundgrube und in ihrer Form eine Art literarische Collage. Hier spricht, schreibt, ganz klar eine Schriftstellerin.

Fast wäre sie selbst eine der Unsichtbaren geworden, schreibt Olsen. Doch glücklicherweise gibt es ihren Erzählband, der 1961 unter dem Titel „Tell Me a Riddle“ erschien und jetzt zeitgleich mit den Essays auf Deutsch vorliegt. In „Ich steh hier und bügle“ verknüpft Olsen vier längere Erzählungen auf gerade mal gut 130 Seiten zu einem sehr intensiven und formal so eigenwilligen wie überzeugenden Stück Literatur.

Feinste Spracharbeit

Drei Generationen einer in die USA emigrierten russisch-jüdischen Familie umfassen die Storys. Olsen holt das von ihr Vermisste in die Texte: Mutterschaft als Erfahrungsraum existenzieller menschlicher Erfahrungen, Armut, Rassismus und Geschlechterverhältnisse. Ihre Schreibweise ist von großer Unmittelbarkeit, die das Ergebnis feinster Spracharbeit ist.

Direkte und innere Rede wechseln einander abrupt ab; die Perspektive einer Figur verschiebt sich plötzlich zu der einer anderen. Eine literarische Spannung liegt im Auseinanderklaffen von innerem Erleben und äußerem Geschehen.

Etwa in „He, Seemann, wohin die Fahrt?“, wo Whitey, Seemann und ein alter Freund von Helens Familie, nach Jahren wiederauftaucht, desillusioniert, angetrunken: „Unzählige Stufen, er schafft es kaum bis oben. Helen (Helen? so … grau?), Carol, Allie branden auf ihn zu. Fieberhaftes Umarmen und Küssen. War auch Zeit, kreischt Carol wieder und wieder. War auch Zeit. […] Wusste nicht mehr, wie groß das Wohnzimmer ist. (Und ist er wirklich hier?)“.

Geradezu körperlich spürbar

Die Unruhe Whiteys, sein Überwältigtwerden von Eindrücken wird geradezu körperlich spürbar. Olsen vermag die Überlappung, die Fast-Gleichzeitigkeit verschiedener, oft widersprüchlicher Empfindungen, Wahrnehmungen ihrer Figuren beeindruckend zu vermitteln. So entstehen dichte, intensive und berührende Texte, in denen die Lesenden den Prot­ago­nis­t*in­nen sehr nahekommen.

Auch in „Erzähl mir ein Rätsel“, wo sich ein altes Paar immer mehr entfremdet (Helens Schwiegereltern). „(Essig hat er sein Leben lang über mich geträufelt; ich bin gut mariniert; wie kann ich jetzt Honig sein?)“ – mit diesem eindrücklichen Bild lässt Olsen Eva – nur in Gedanken – die Beschwerden ihres Mannes kommentieren. Olsen erzählt so klug wie einfühlsam von Fremdheit in der Familie, Hilflosigkeit angesichts einer tödlichen Krankheit und von einer Nähe, die dadurch wieder fühlbar wird. Und nutzt auch die grafische Gestaltung des Textes als literarisches Mittel: So spiegelt sich hier Evas verlangsamtes, mühsames Sprechen, auch Denken, aufgrund ihrer Krankheit in langen Unterstrichen, welche die Worte, die Satzteile auseinanderziehen.

„[…] manchmal das Verstummen nachdem ein Werk erschienen ist“, heißt es in den Essays: Der seinerzeit preisgekrönte Erzählband blieb Olsens literarisches Hauptwerk; 1974 erschien noch das Romanfragment „Yonnondio“. Sie hielt viele Vorträge, lehrte, war politisch aktiv. Warum sie aber literarisch schwieg? Dass sie in den Geschichten alles Wesentliche erzählt habe, wie Jürgen Dormagen in seinem ansonsten erhellenden Nachwort vermutet, scheint angesichts ihrer Aussagen in den Essays und der im Erzählband aufscheinenden verdichteten (Lebens-)Fülle unwahrscheinlich.

Das von ihr nicht Geschriebene gehört wohl zu den unwiederbringlichen Verlusten in der Literatur.

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