Roman von Mohamed Mbougar Sarr: Fasziniert vom Schweigen

Für „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ wurde der Autor mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Nun erscheint das Buch auf Deutsch.

Mohamed Mbougar Sarr, geboren 1990 in Dakar/Senegal, studierte und lebt in Frankreich

Geboren im Senegal, heute in Frankreich zu Hause: Mohamed Mbougar Sarr Foto: Joel Saget/afp/getty images

Was zählt, ist das Leben. Das Werk kommt erst danach.“ So schreibt Mohamed Mbougar Sarr in seinem Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“. 2021 wird der damals 31-Jährige dafür mit dem prestigeträchtigen Prix Goncourt geehrt. Kurz darauf scheint sich die Aussage aus seinem Buch wie eine Prophezeiung selbst zu erfüllen. Der Preisträger des wichtigsten französischen Literaturpreises: ein Senegalese?

Europäische Zeitungen betiteln Sarr als „Autor aus Subsahara-Afrika“, der durch seinen „Hintergrund“ auffalle. Senegals Präsident Macky Sall gratuliert auf Twitter seinem „Landsmann“. Ein Leser schreibt, Sarrs Werk sei ein Beispiel für die „Exzellenz senegalesischer Literatur“. Was damals folgt, sind zahlreiche Interviews. Rezensionen zu seinem Werk: eher weniger.

Die Geschichte um die Veröffentlichung von Sarrs Roman ist bezeichnend für sein Buch: Nicht nur, weil Sarrs Werk in der öffentlichen Diskussion oft an seinem Leben als Senegalese gemessen wird, sondern auch, weil der Titel autobiografisch – und damit tatsächlich vom Leben des Autors – inspiriert ist. Schließlich, weil Leben und Werk sich bei Sarr so immer wieder vermischen, die Rezeption seines Lebens wie eine Wiederkehr seines Werkes wirken – und das teilweise bewusst.

„Die geheimste Erinnerung der Menschen“ ist verfasst aus der Sicht eines im Senegal geborenen Erzählers und angehenden Schriftstellers, der wie Sarr nach Frankreich auswandert. Dort stößt er auf den Roman eines fiktiven Autors, der im Frankreich der 1930er Jahren unter dem Namen T.C. Elimane debütiert.

Der schwarze Rimbaud

Für seinen Roman „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ feiert ihn das französische Publikum als „schwarzen Rimbaud“. Doch schon bald nach Veröffentlichung seines Werks beschuldigen ihn seine Kritiker, abgeschrieben zu haben. So ein herausragendes Buch von einem Schwarzen? Unmöglich. Der Verlag stellt den Verkauf ein, T.C. Elimane verschwindet, ohne jemals einen weiteren Text zu veröffentlichen.

Mohamed Mbougar Sarr: „Die geheimste Erinnerung der Menschen“. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser, München 2022. 448 Seiten, 27 Euro

Der Erzähler ist fasziniert von dessen Geschichte: Kann ein Mensch aus der Erinnerung gelöscht werden? Er recherchiert zu Elimane über Jahrhunderte und Kontinente hinweg, sammelt Sachbuchtexte, Tagebucheinträge, mündliche Erzählungen von Familie und Freunden.

Sarr arbeitet dazu mit teilweise kompliziert ineinander verschachtelten Erzählebenen. Geschichten überlappen sich, verstricken sich aber manchmal auch in Widersprüchen. So bleibt ein diffuses Konstrukt jener Figur T.C. Elimane, von der zwischendurch nicht einmal klar ist, ob sie überhaupt existiert. „Vielleicht können alle Menschen so verschwinden“, schreibt Sarr. „Aber kann man glauben, dass jemand verschwindet, ohne etwas zu hinterlassen?“

Weder Biographie noch Autobiographie

In Sarrs Roman finden sich immer wieder Berührungspunkte zum realen Leben – so auch zum Autor selbst. Sarr, geboren 1990 in Dakar, stammt aus einer senegalesischen Aufsteigerfamilie: Sein Vater arbeitete als Arzt, besaß als Erster in der Familie eine universitäre Ausbildung. Im Haushalt der Familie gab es keine Bücher, wie er sagt. „Aber Bildung spielte für meine Eltern eine große Rolle. Bildung bedeutete Macht.“ Die lag in Europa. Als einer der besten Schüler seiner Klasse schaffte Sarr es auf eine Eliteschule in Frankreich.

Gewidmet hat Sarr sein Buch dem 1940 in Mali geborenen Schriftsteller Yambo Ouologuem. In Frankreich wurde jener für seinen Debütroman „Le devoir de violence“ („Das Gebot der Gewalt“) mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet. Nach Plagiatsvorwürfen zog er sich nach Mali zurück – und schrieb von da an keine Zeile mehr.

Sarr fühlte sich von dessen Schweigen fasziniert, sagt er. „Mich interessierte, was ein Buch mit seinem Autor macht“, so Sarr. „Mit seinem Roman hat Ouologuem nicht nur seine Karriere geopfert, sondern auch all seine Leidenschaft für Literatur.“

In Sarrs Buch liest sich das Schweigen T.C. Elimanes als ein durchaus gewollter Akt und Teil seiner Identität. „Sich in seinem Werk auslöschen zu wollen, ist nicht immer ein Zeichen von Demut“, kommentiert ein Freund des Erzählers. „Selbst die Sehnsucht nach dem Nichts kann eine eitle Sache sein.“ Elimane ist nicht greifbar; er bleibt als Figur unterschiedlicher Erzählungen eine „lebendige Illusion“, ein „Gespenst“: „Man kann Elimane nicht treffen. Er erscheint einem.“

Absage an den französischen Literaturbetrieb

Auch Sarr ist in dem Buch nicht greifbar. Im Gespräch mit der taz betont er, es handle sich weder um Biografie noch Autobiografie – das Buch sei auch keine reine Fiktion, sondern etwas „dazwischen“, eine Form von „Real Fiction“. Sarr ist sich seiner Rolle im französischen Literaturbetrieb aber durchaus bewusst – und inszeniert die Interpretation seines Lebens teilweise spielerisch in seinem Roman: „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ liest sich wie eine Absage an den französischen Literaturbetrieb.

Bei Sarr ist er eine elitäre Bubble, beherrscht von kultureller Unterdrückung. Die Figuren, viele von ihnen mit migrantischem Hintergrund wie Sarr selbst, beschreiben sich als Opfer der Kolonialisierung und „Schändung unserer Geschichte“. Währenddessen müssten „wir“ weiter „der riesigen Literatur des Abendlandes hinterherrennen“.

Genau jenes Abendland machte Sarr über Nacht zum Star. Als der Autor von seiner Auszeichnung mit dem Prix erfuhr, sagt er später in einem Interview mit der New York Times, habe er nicht gewusst, wie er das interpretieren soll. Auf Fotos zur Preisverleihung posiert Sarr im Michelin-gekrönten Pariser Restaurant Drouant, halb verdeckt von der Jury. „Ist das ein Weg, mich zum Schweigen zu bringen?“, sagt er in dem Interview.

Stellt man Sarr die Frage ein Jahr nach seiner Auszeichnung, zum Erscheinen seines Buches in deutscher Übersetzung, antwortet er mit einem Lachen. Nein, nein, der Preis sei etwas Großes für ihn gewesen. „Tief in mir drin war ich froh.“ Und weiter: „Der Preis ist eine Ehre für einen Schriftsteller aus dem Senegal.“

„Afrika“ als geografische Einordnung

Sarr sieht sich selbst als „afrikanischen Schriftsteller“, sagt er. Ein Begriff, von dem sich andere Autoren längst distanzierten. Die britische Schriftstellerin Taiye Selasi etwa bezeichnete ihn bei dem Internationalen Literaturfestival in Berlin als Erfindung eines vereinheitlichten „monolithischen Afrikas“. Sarr findet dagegen „Afrika“ als geografische Einordnung „okay“. Solange er an keine Erwartungen geknüpft sei: „Erwartung ist das Gegenteil von Schöpfung“, sagt er.

Indem Sarr Diskussionen über sonst so intensiv verhandelte Begriffe eher klein hält, steht er aber auch irgendwie drüber. Sarr nennt seine Rolle im Kulturbetrieb in der Figur von Elimane beim Namen; damit übernimmt er die Kontrolle über seine eigene Geschichte und macht sich selbst zum Schöpfer. Der Autor Sarr wird damit aber automatisch selbst zur Inszenierung, entzieht sich jeder Beschreibung und wird – wie Elimane selbst – zu einer „lebendigen Illusion“ der Leser.

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