Freiwilligendienst: Mehr nehmen als geben

Mit „kulturweit“ schickt die deutsche UNESCO-Kommision junge Deutsche in die Welt. Die MacherInnen im Gespräch.

Zusammenhalt fördern: Freiwillige beim Zwischenseminar in Kolumbien Bild: DUK/Christoph Löffler

taz.meinland: Frau Veigel, Herr Martin, wer hilft, jungen Leuten Auslandsaufenthalte zu ermöglichen, war bestimmt selbst viel unterwegs, oder?

Anna Veigel: Während Studium und Beruf war ich für längere Auslandsaufenthalte in Togo, Italien, Ungarn und Schottland. Am stärksten geprägt hat mich aber die Zeit in Indien. Ich musste alles selbst organisieren. Über einen Großonkel, der Missionar in Indien war, kam der Kontakt zu einem Krankenhaus mit angeschlossenem Behindertenheim in Südindien zustande.

Wir haben zwei Briefe hin- und hergeschrieben. Im zweiten stand: Flieg nach Mangalore, setz dich in ein Taxi nach Udupi, da erwartet man dich. Damit habe ich mich aufgemacht und ein halbes Jahr als einzige Ausländerin dort gelebt. Das prägt fürs Leben.

Peter Martin: Ich habe einen sozialen Freiwilligendienst in Westrumänien in einem Altenheim gemacht. Letztlich haben sich meine Erfahrungen nicht sehr von denen meiner Freunde unterschieden, die in Deutschland Zivildienst gemacht haben. Allerdings habe ich die Arbeit in fremder Sprache und in einer Gegend gemacht, die ich nicht kannte. Ich habe gemerkt: Wenn ich mich überwinde, dann finde ich auch Anschluss.

Was bedeutet diese Erfahrung für Ihre jetzige Arbeit?

Martin: In der Zeit habe ich gelernt, Grenzen zu überwinden: nicht unbedingt politische, sondern zwischenmenschliche und eigene Grenzen. Ich war 18 Jahre alt und bin in ein anderes Land gegangen. Die Herausforderung war, Leute kennenzulernen, mit denen ich abends ausgehen kann.

Dreihundert junge Deutsche an einem Fleck, alle kurz vor dem Abflug zu einem Einsatz in der auswärtigen Kultur- und Bildungsarbeit – taz.meinland nutzte am brandenburgischen Werbellinsee die Chance um mit den jungen Kulturbotschaftern über Grundsatzfragen zu diskutieren: Was ist eigentlich deutsch? Wie sehen die Jugendlichen ihre Rolle in der Welt?

Veigel: Ich hatte damals niemanden, mit dem ich mich austauschen konnte. Es ist aber unglaublich viel passiert, von dem ich wahnsinnig überfordert war. Bei kulturweit bieten wir ein pädagogisches Begleitprogramm: Leute lernen sich vorher kennen, tauschen sich aus, haben ein Netzwerk.

Während des Einsatzes haben sie einmal fünf Tage Zeit sich zu besinnen: Wo steh ich, wie soll es weitergehen? Und sie sollen fühlen, dass man mit Situationen, an denen man zu knabbern hat, nicht allein ist. Bevor die Freiwilligen an die Einsatzorte gehen, bereiten Sie sie in Seminaren vor. Welche Inhalte liegen Ihnen am Herzen?

Martin: Es geht einerseits um das Einüben handwerklicher Fähigkeiten wie Didaktik, andererseits um die Sensibilisierung für Ungleichheiten und die eigenen Privilegien. Die Leute sollen nicht mit Antworten für die Menschen ins Ausland gehen, sondern mit Fragen danach, warum an anderen Orten Dinge wie der Linksverkehr auch anders laufen können. Sie sollen historische Bedingungen hinterfragen.

Veigel: Auch die Frage „Was bringe ich zurück nach Deutschland?“ spielt eine große Rolle. Welche Bilder werden hin und her transportiert? Was ist meine Position im komplexen, globalen Weltgeflecht? Wir sind aber auch bemüht, dass das Ganze nicht zur Last für die Teilnehmer*innen wird.

Auslandsaufenthalte sind für Jugendliche auch eine Herkunftsfrage. Welche Rolle spielt das Milieu bei Ihren Freiwilligen?

Veigel: Auch bei uns haben 95 Prozent Abitur. Das ist ein Problem. Wenn Grundschulkinder in unterprivilegierten Mi­lieus schon die Chance bekämen Auslandserfahrung zu machen, zum Beispiel bei Schul- oder Jugendgruppenausflügen, hätten sie vielleicht das Selbstbewusstsein zu sagen: „Ich krieg das hin!“ So fragt das Umfeld: „Warum willst du denn jetzt für ein Taschengeld ins Ausland?“ Wert hätten Auslandsaufenthalte aber gerade für diese Jugendlichen.

Martin: Freiwillige mit unterschiedlichen Hintergründen bereichern sich mit ihren Erfahrungen. Außerdem wollen wir ein differenziertes Deutschlandbild abbilden. Unsere Freiwilligen wirken in ihren Einsatzorten in erster Linie als Persönlichkeiten: Es geht nicht darum, den Leuten zu sagen, was denn alles deutsch ist und was nicht. Sie sollen durch unsere Freiwilligen verschiedene Facetten kennenlernen und deshalb dürfen wir nicht nur einen Ausschnitt der Bevölkerung abbilden.

kulturweit versteht sich nicht als Entwicklungsprojekt, sondern in erster Linie als Chance für die Freiwilligen. Warum?

Veigel: Entwicklungszusammenarbeit hat oft noch den Touch, dass etwas exportiert wird. Das hat etwas Arrogantes. Man sollte sich auf Augenhöhe begegnen. kulturweit ist ein Lernprogramm für alle Beteiligten. Unseren Freiwilligen soll von Anfang an klar sein, dass sie viel mehr nehmen, als sie geben.

Was ist Deutschland, was ist „meinland“ für Sie?

Martin: Was „meinland“ ausmacht, ist nicht in Stein gemeißelt. Solange der 11. 11. unter dem Kölner anders aussieht als am Berliner Dom, kann nicht ein Teil für das Ganze stehen. „meinland“ ist für mich Vielfalt, Respekt davor, dass es andere Lebensentwürfe gibt und in vielen Teilen ein sehr liberales Fleckchen Erde.

Veigel: Im Ausland wollte ich nicht, dass man merkt, dass ich Deutsche bin. Unser Englisch soll möglichst akzentfrei sein. Vielleicht ist dieses Zweifelnde typisch für Deutschland: „meinland“ ist ein Ort, an dem wir uns mit Veränderungen beschäftigen und weniger Energie darauf verwenden, dass alles so bleibt, wie es ist.

Das Interview wurde geführt von ANNIKA MARETZKI und THILO ADAM.