Gescheitertes Inklusionsunternehmen: Vom Ufer wieder fortgespült

Das Café Strandgut am Wöhrder See in Nürnberg sollte Symbol für erfolgreiche Inklusion in der Gastronomie sein. Jetzt musste es schließen. Warum?

ein flaches weißes Gebäude am Strand, die Fenster sind zugezogen

Südansicht des Café Strandgut Foto: Matthias Fleischmann

NÜRNBERG taz | Es ist dem besonderen Wunsch von Markus Söder – damals bayerischer Umweltminister und lebenslang Franke – zu verdanken, dass Anfang der 2010er-Jahre am Wöhrder See eine kleine Oase der Naherholung entstanden ist. Mit Aussichtssteg und Badebucht, mit Sandstrand und rosa Tretboot-Flamingos; aber lange ohne eine Gastronomie, die die Menschen dort an heißen Tagen mit Eis und Aperol Spritz versorgt, und im Winter mit Wärme.

2019 sah das auch die Stadt Nürnberg ein und beauftragte das kommunale Immobilienunternehmen wbg damit, ein Café an den innenstadtnahen See zu bauen. In freundlicher Zusammenarbeit mit der Nürnberger Lebenshilfe, deren gerade gegründetes Tochterunternehmen Gastronomie & Toleranz (GuT) die Gastronomie pachten sollte. Es entstand das „Strandgut“, ein inklusives Projekt, in dem zuletzt zwölf Menschen mit geistiger oder seelischer Beeinträchtigung arbeiteten. Die ideale Lösung für den idealen Ort, waren sich viele einig. Trotzdem hat das Strandgut Ende September zugemacht.

Inklusionsbetriebe müssen eine Quote von 30 bis 50 Prozent Beschäftigte mit einer Schwerbehinderung nachweisen. Betriebe dieser Art sind Teil des allgemeinen Arbeitsmarkts, es gilt also der gesetzliche Mindestlohn. Und sie ermöglichen berufliche Teilhabe für Menschen, denen das sonst eher erschwert wird. In 2020 gab es 975 solcher Unternehmen in Deutschland mit insgesamt fast 30.000 Ar­beit­neh­me­r:innen.

Neben den Inklusionsbetrieben gibt es für Menschen mit Behinderung noch das immer wieder in der Kritik stehende Werkstättensystem mit über 300.000 Beschäftigten. Am Wöhrder See existierten beide nebeneinander. Einerseits der Inklusionsbetrieb Strandgut und andererseits das Café Tante Noris 800 Meter weiter das Ufer runter – eine Werkstatt des städtischen Trägers Noris Inklusion. Warum ging nur das Café Strandgut unter?

Treffen im ehemaligen Gast­raum mit Sven Seuffer-Uzler, dem Geschäftsführer der GuT. Die Vorhänge des Café Strandgut sind zugezogen, die Stühle stehen auf den Tischen, der Boden ist frisch gefegt. Wer die Immobilie übernehmen werde, sei noch unklar, sagt er. Die GuT beendet an diesem Standort ihr letztes gastronomisches Projekt. Zwei Betriebskantinen mussten zuvor wegen der Coronapandemie schließen. Angesichts der Pre­mium­lage des Strandgut fragt man sich allerdings, warum es überhaupt betroffen ist und ob das mit dem Konzept der Lebenshilfe zusammenhängen könnte. Im Jahr 2022 belastete das Café die Bilanz der Lebenshilfe Nürnberg mit einem Defizit von fast 300.000 Euro. Prognosen für 2023 sahen nicht viel besser aus.

Defizite würden für gewöhnlich „strukturell ausgeglichen“

Seuffert-Uzler hat Fabian Meissner mit zum Gespräch geladen, SPD-Stadtrat, Mitglied im Aufsichtsrat der wbg und Vorstandsvorsitzender der Lebenshilfe. Das Projekt Café Strandgut nennt er ein „Herzensthema“. Seine Eröffnung hatte es im Februar 2020 gefeiert, kurz vor dem ersten Lockdown. „Wir wollten uns Zeit lassen“, sagt Meissner, „die Leute an diese Arbeit heranführen.“ Das sei alles flachgefallen. Einnahmen konnte das Café erst mal keine erzielen, Pacht und Mitarbeitende mussten bezahlt werden. Danach begann eine Phase permanenter Unsicherheit. Erst 2022 habe es so etwas wie Normalbetrieb gegeben, sagt er. Unter postpandemischen Bedingungen: Viele Fachkräfte hatten sich aus der Gastro verabschiedet, der Krankenstand unter den Verbliebenen war hoch, ebenso die Fluktuation in der Leitungsebene. Dennoch wollen weder Fabian Meissner noch Sven Seuffert-Uzler Corona allein als Ursache für das Ende ihres Projekts gelten lassen.

Die Defizite von Inklusionsunternehmen würden für gewöhnlich „strukturell ausgeglichen“, sagt Sven Seuffert-Uzler. „Dahinter steckt ja ein soziales Unternehmen, dem es wichtig ist, dass diese Arbeitsplätze bestehen bleiben.“ Hätte man das Strandgut weiter mit Eh­ren­amt­le­r:in­nen oder als Werkstätte betrieben, hätte man die hohen Personalkosten in den Griff kriegen können. Doch wäre das ein Widerspruch zur Ursprungsidee gewesen. Denn auch wenn Fabian Meissner die gesunde Koexistenz mit den Nachbarn von Tante Noris am See betont, sagt er deutlich: „Das Werkstattsystem ist strukturell diskriminierend. Menschen, die im Café arbeiten und Werkstattlohn bekommen, das passt für mich nicht zusammen.“ Der Werkstattlohn beträgt in Deutschland durchschnittlich 212 Euro im Monat, hinzu kommt in den meisten Fällen die Grundsicherung oder eine Erwerbsminderungsrente.

2009 hat Deutschland der UN-Behindertenrechtskonvention zugestimmt, die besagt, dass Menschen mit Behinderung ein Recht darauf haben, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu bestreiten und für gleiche Arbeit das gleiche Geld zu verdienen. Die Werkstätten als exklusive Einrichtungen stehen politisch auf dem Prüfstand. Eine Abschaffung, wie Kri­ti­ke­r:in­nen fordern, würde aber neue Probleme aufwerfen, befürchtet Jeanne Nicklas-Faust, Bundesgeschäftsführerin der Lebenshilfen: „Die Werkstätten sind eine merkwürdige Konstruktion“, sagt sie, „weil sie rehabilitative Leistungen mit dem allgemeinen Erwerbsleben kombinieren. Wenn mit Menschen aus Werkstätten ein Café betrieben wird, ist das eine Wettbewerbsverzerrung.“

Behindertenwerkstätten haben einen Betreuungsschlüssel von 1:12. Das heißt, für zwölf beschäftigte Personen mit Beeinträchtigung wird dem Betrieb vom Staat eine Fachkraft zur Arbeits- und Berufsförderung finanziert. In der Tante Noris arbeiten derzeit dreizehn Fachkräfte ohne Behinderung und zwölf Menschen, die den Werkstattlohn erhalten. „Wenn ich allen Tariflohn bezahlen würde, müsste ich morgen zusperren“, sagt Christian Schadinger, Geschäftsführer der Noris Inklusion. „Wenn die Gesellschaft sich das wünscht, muss sie auch die Lohnkosten übernehmen.“ Er habe viele Inklusionscafés kommen und gehen sehen. Auch die Tante Noris, der Werkstattbetrieb, habe nach sechsstelligen Verlusten in den Coronajahren in diesem Jahr ein Defizit von 30.000 Euro eingefahren.

Schadinger ärgert sich darüber, dass die Werkstätten für mangelnde Inklusion in Deutschland verantwortlich gemacht würden. „Der aktuelle Fachkräftemangel sorgt für einen enormen Druck auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Unsere Leute halten diesem Druck oft nicht stand. Eine Reform der Werkstätten schafft noch keinen humaneren Arbeitsmarkt, wo Menschen mit Behinderungen auch wirklich aufgenommen werden können.“ Reformen müssten bei der Unterstützung der Ar­beit­geber:in­nen ansetzen und nicht bei den Werkstätten, die als Einzige in der Lage seien, auch schwer mehrfachbehinderte Menschen ohne Leistungsdruck zu beschäftigen. „Es gibt“, sagt er, „kein Land in Europa, wo so stark eingeschränkte Menschen arbeiten können, wie in Deutschland.“

Für Inklusionsunternehmen ist die Gastronomie mit 170 Betrieben die größte Branche, vor Industrie- und Handwerksdienstleistungen. Claudia Rustige, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen (Bagif) bestätigt, dass es um viele dieser Betriebe nicht ganz so gut stehe. Die gesamte Branche, ob inklusiv oder nicht, leide unter Personalmangel und hohen Lebensmittelpreisen. „Bei Inklusionsbetrieben kommt der Personalbedarf verschärfend hinzu. Das sind höhere Kosten, die derzeit nicht durch die Nachteilsausgleiche der Inklusionsämter aufgefangen werden können.“

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Die Zahl der Inklusionsgastros sei über die vergangenen Jahre trotzdem steigend: „Wenn der Standort und das Konzept passen, kann man auch in der Gastronomie durchaus erfolgreich sein.“ „Zauberhaft“ und „schön“, sagt Fabian Meissner, wäre das gewesen, wenn das Café Strandgut funktioniert hätte. Er erinnert sich an zahllose Task-Force-Runden und Videokonferenzen. Man brainstormte über einen möglichen Ausbau des To-Go-Geschäfts oder den Einsatz von Ehrenamtler:innen. „Das hätte man schon machen können“, sagt Meissner, „aber das wäre für mich kein Inklusionsunternehmen, sondern ein soziales Liebhaberprojekt.“

Das Ende des Café Strandgut schmerze noch, nach wie vor. Aber es sei noch lange nicht das Ende der Inklusionsunternehmen der Lebenshilfe: „Wenn ich mit Betroffenen spreche“, sagt Meissner, der selbst im Rollstuhl sitzt, „machen sich alle Sorgen darüber, was in diesem Land gerade abgeht. Dass eine Partei erfolgreich ist, die Inklusion als Ideologie bezeichnet.“

Umso mehr brauche man Projekte wie das Strandgut. „An anderer Stelle wird es funktionieren“, sagt er noch und hofft, dass er irgendwann überhaupt keine Inklusionsunternehmen mehr braucht. „Weil Menschen mit Beeinträchtigung überall Arbeit finden können.“

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