Krieg um Bergkarabach ausgebrochen: Aserbaidschan startet Großangriff

Die Boden- und Luftoffensive richtet sich gegen die armenisch besiedelte Enklave Bergkarabach. In Armenien brechen Proteste gegen die untätige Regierung aus.

Ein Haus ist zerstört

Ein beschossenes Wohngebäude in Stepanakert, Hauptstadt Bergkarabachs Foto: Itar-Tass/picture alliance

BERLIN/TIBILISSI/ISTANBUL/JEREAM taz/dpa | Aserbaidschan greift die armenisch besiedelte Enklave Bergkarabach an. „Antiterroreinsatz“, nennt das aserbaidschanische Verteidigungsministerium das. Die armenische Regierung spricht von der Vorbereitung einer ethnischen Säuberung.

Seit Dienstagmittag steht das Gebiet unter breit angelegtem aserbaidschanischem Beschuss. Sowohl die Hauptstadt Stepanakert als auch ländlichere Gebiete sind betroffen. Videos in den sozialen Medien zeigen dunklen Rauch über Stepanakert, es sind Explosionen zu hören, die Luft­alarmsirenen heulen auf. Armeniens Premierminister Nikol Paschinyan gab am Nachmittag an, Aserbaidschan habe außerdem den Einsatz am Boden begonnen.

Dass Armenien gegen den nach dem Krieg 2020 ausgehandelten Waffenstillstand verstoßen habe, sei der Auslöser des Einsatzes, so Baku. Für die Evakuierung von Zivilisten habe man Korridore aus dem umkämpften Gebiet geöffnet – eine Vorbereitung, das Gebiet von Armeniern zu entsiedeln, befürchten die.

Das Verteidigungsministerium in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku erklärte, es würde Präzisionswaffen nutzen, um auf armenische Militärpositionen und von „Separatisten“ – wie die Einwohner Bergkarabachs in Aserbaidschan genannt werden – genutzte Einrichtungen abzuzielen.

Geschosse schlagen in Wohngebäude ein

Ein auf X (ehemals Twitter) geteiltes Video zeigt ein Wohngebäude, in das ein aserbaidschanisches Geschoss eingeschlagen ist. Ein Teil der Mauer ist weggesprengt, Trümmer verteilen sich auf parkenden Autos und einem Kinderspielplatz. Es wurden weitere Wohngebäude sowie zivile In­frastruktur angegriffen, mindestens zwei Zivilisten bisher getötet und 23 weitere verletzt.

Armenier befürchten, dass das Gebiet ethnisch gesäubert werden soll

Menschen, die definitiv als Zivilisten erkennbar sind, sind betroffen: Unter anderem wurden 7 Kinder aus der Region Askeran in das Kinderkrankenhaus in Stepanakert eingeliefert, nachdem sie unter aserbaidschanischen Beschuss geraten waren. „Viele Eltern können ihre Kinder nicht finden, weil die Bombardierungen auf Stepanakert begann, als sie auf dem Heimweg waren. Sie können ihre Kinder auch nicht kontaktieren, weil die mobile Netzverbindung unterbrochen ist“, erklärt die Menschenrechtlerin Zaruhi Hovhannisyan.

Dass ein Angriff bevorstehen könnte, zeigte sich bereits am Morgen: Baku gab an, Armenier aus Bergkarabach hätten einen Anschlag mit Minen nördlich der Enklave ausgeführt, mehrere Polizisten seien getötet worden. Danach begannen erste Gefechte.

Letzte Woche schon gab es einen massiven aserbaidschanischen Truppenaufmarsch an der Enklave und der armenischen Grenze. Das Militär probte den Kampf aus der Luft, unter anderem mit einem israelischen Raketensystem. Und zwischen Aserbaidschan und dem mit ihm verbündeten Israel nahm die Anzahl der Transportflüge des Militärs deutlich zu.

Armenien und Aserbaidschan sind schon lange verfeindet

Paschinyan erklärte am Nachmittag, die Situation in Bergkarabach sei nicht unvorhersehbar gewesen. Man habe eine Sitzung des Sicherheitsrats einberufen. „Wir glauben, dass erstens die russischen Friedenstruppen Maßnahmen ergreifen sollten. Und zweitens erwarten wir, dass der UN-Sicherheitsrat Maßnahmen ergreift“, so Paschinyan. Armenien selbst hat keine Truppen in der Enklave.

Bergkarabach ist seit Jahrzehnten zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan umkämpft. Nach dem Ende der Sowjetunion ging das Gebiet zunächst an Aserbaidschan. In den 1990er Jahren hatte sich die mehrheitlich armenische Bevölkerung des Gebietes mit Unterstützung Armeniens von Baku losgekämpft. Armenien war damals besser ausgerüstet und gewann den Krieg um Bergkarabach.

Bis 2020 hatte sich Aserbaidschan durch seine Öl- und Gasverkäufe eine bessere Ausrüstung erkauft und eroberte große Teile des Gebietes, 6.500 Menschen starben. Der anschließende Waffenstillstand sollte von russischen Friedenstruppen gesichert werden, die an der Grenze postiert sind. Er wurde aber bereits mehrfach gebrochen. Aserbaidschan blockierte außerdem den Latschin-Korridor, die einzige offene Verbindungsstraße nach Armenien. In der Enklave wurden Nahrungsmittel und Benzin knapp, die humanitäre Lage ist prekär.

Laut der Sprecherin des russischen Außenministeriums erfuhren die russischen Friedenstruppen erst wenige Minuten vor Beginn von der Operation. Baku gab bekannt, dass es außerdem das russisch-türkische Überwachungszentrum, das die Aufrechterhaltung des Waffenstillstands beobachtet, über die „Antiterroroperationen“ informiert habe.

Die Türkei – enge Verbündete Aserbaidschans – hat derweil Baku ihre volle Solidarität zugesichert. Ob türkische Soldaten oder Techniker an dem neuerlichen Angriff beteiligt sind, ist bisher nicht bekannt.

Die Europäische Union verurteilte den aserbaidschanischen Militäreinsatz. Frankreich hat eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats angeregt. Die Linke fordert die Aussetzung aller Abkommen mit Baku. Deutschland erhält seit dem Überfall Russlands gegen die Ukraine vermehrt Gas aus dem Kaukasusland.

Proteste in Armenien gegen Regierung

Als Reaktion auf den aserbaidschanischen Beschuss der Konfliktregion Bergkarabach haben in Armeniens Hauptstadt Eriwan Proteste begonnen. Die Demonstranten forderten am Dienstag von ihrem Regierungschef Nikol Paschinjan ein entschiedeneres Vorgehen sowie Unterstützung der armenischen Bewohner Bergkarabachs.

Auf Videos in sozialen Netzwerken ist eine aufgebrachte Menschenmenge zu sehen. Berichten örtlicher Medien zufolge versuchten Demonstranten, in das von Polizisten umstellte Parlamentsgebäude einzudringen. Es wurden demnach auch Steine und Flaschen auf Polizisten geworfen.

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