Die Wahrheit: Auf Anhieb Schmerz

Die momentane Sadomaso-Mode schlägt hohe Wellen und zieht immer bizarrere Folgen bis in den öffentlichen Nahverkehr nach sich.

Bild: Jean La Fleur

Ankepetra hat noch immer leuchtende Augen, wenn sie von ihrer großen Leidenschaft erzählt: „Ich kannte nicht mal seinen Namen. Wusste nicht, was er von mir erwartete. Sollte ich schneller laufen, sollte ich mich unauffällig verhalten? Ich beschleunigte meine Schritte, lief stolpernd auf ihn zu. Er war in diesem Moment Herr über mein Glück, mein Schicksal. Die Vorstellung, ihm in diesem Moment, verschwitzt und verzweifelt, wie ich war, so vollständig ausgeliefert zu sein, erregte mich unendlich. Sein steinernes Gesicht verriet mir mit keiner Miene, wie er sich entscheiden würde. Endlich, als ich ihn fast erreicht hatte, drückte er einen Knopf – und die Bustüren schlossen sich, er brauste davon. Ich habe ihn nie mehr gesehen.“

Ein erotisches Abenteuer mit Folgen: Über Nacht wurde Ankepetra verkehrsbesessen, studierte einschlägige Szeneorgane, die sogenannten „Fahrpläne“, setzte sich mitten in der Nacht an Provinzhaltestellen. „Der Kick ist einfach unglaublich, besonders kurz vor Dienstschluss. Ist der Letzte schon gekommen? Oder zögert er es einfach möglichst lange hinaus?“

Mit ihrer Passion ist sie nicht alleine – im Interessenverband unterwerfungswilliger ÖPNV-Teilnehmer (IVUÖPNVT) hat sie Gleichgesinnte gefunden. Gemeinsam mit ihren neuen Freunden fordert sie höhere Ticketpreise und verwirrendere Tarifzonen. „Erst wenn ich nicht mehr weiß, wo ich bin, bin ich ganz bei mir selbst“, philosophiert sie, während sie sich von einem Ticketkontrolleur nach Strich und Faden so richtig schuhriegeln lässt.

Experten rätseln, wie sie das neue Phänomen nennen sollen. Sadomasisierung klingt blöd, Ess-Emm-isierung nach einem rezeptfreien Medikament („Ess-Emm Eukal“), Fragelliophilie („Peitschenliebe“) kann sich keiner merken. Der Trendforscher Matthias Horx hingegen spricht von der Rückkehr einer „Beat-Generation ohne Instrumente“. Bisher hat ihm niemand widersprochen – schlicht aus Angst davor, ihn durch Zurückweisung geil zu machen. Was allerdings stimmt: Die Deutschen haben die Lust am Schmerz entdeckt.

Horx erklärt das Phänomen sozialpsychologisch: „Der Erfolg von ,Shades of Grey' hat einen Damm eingerissen – oder ihm zumindest eine ordentliche Muskelzerrung verpasst. Die Deutschen wollen in der Welt nicht mehr dastehen als die braven Biedermänner, die sich privat schockierenden Fantasien hingeben. Wir tragen die Peitsche jetzt nicht mehr verstohlen in der Aktentasche – wir peitschen die Akten an Ort und Stelle aus!“

Wenn Horx recht hat, dann muss es eine Qual sein, seine Bücher zu lesen – deren Verkaufszahlen sprechen nämlich für eine überraschend hohe Quote offen lebender Masochisten hierzulande. Horx fährt fort, obwohl das Interview eigentlich schon zu Ende ist: „Bisher waren die Deutschen vor allem als passiv-aggressiv, als Nörgler und Wichtigtuer bekannt. Dass sie dabei gerne Nippelklemmen tragen, wurde immer nur als liebenswertes Detail aufgefasst. Doch steckt in der Nippelklemme ein winziges Psychogramm der Berliner Republik – ganz klein und zusammengequetscht.“

Schon jetzt kann als gesichert gelten, dass die neue Lust am Schmerz die Gesellschaft beflügelt – und darüber hinaus auch die Wirtschaft. Die Zahlungsmoral der Deutschen ist in schwindelerregende Höhen gestiegen, seit Gläubiger nicht mehr mit der Russen-Inkasso drohen, sondern damit, die Russen nicht vorbeizuschicken. Auch die Zahl der Krankmeldungen in den Betrieben ist gesunken. „Die Leute lieben es, sich unter Schmerzen an den Arbeitsplatz zu schleppen“, sagt Manfred Frettmann von der Industrie- und Handelskammer Plugstadt. „Die eiskalten, mitleidlosen Blicke des Abteilungsleiters oder die demütigenden Bemerkungen von Kollegen feuern sie zu Höchstleistungen an!“

Die Tendenz, Krankheiten und Gebrechen nicht immer gleich an die große Glocke zu hängen, sondern stillschweigend zu genießen, findet sich im gesamten Gesundheitssektor. Aloisia Err, 84, erlebt jeden Tag neue Höhepunkte: „Ich habe leider erst sehr spät im Leben meine Lust an Fixierungen und Bondage entdeckt. Das Tolle ist: Jetzt, mit Arthrose und Rheuma, brauche ich überhaupt gar keine Fesseln mehr, kann mich auch so nicht mehr bewegen. Eine wahre Freude!“ Wird sie dann auch noch von der Tagespflegerin angepflaumt und unsanft umgebettet, ist ihr Tag perfekt.

Deutschland – einig Folterwunderland? Der Einzelhandel kann sich jedenfalls nicht beschweren, insbesondere die Baumärkte fahren gewaltige Gewinne ein. Nicht so sehr wegen Handwerksmaterial, das für Sexspiele zweckentfremdet wird. Tatsächlich ist es eher umgekehrt: Immer mehr Menschen nutzen ihre Sex-Toys, um einfache Arbeiten und Reparaturen im Haushalt selbst auszuführen. Sahne kriegt man mittels Elektrostimulator innerhalb von Sekunden steif; ein Abfluss lässt sich ebenso gut mit einem „Arschblaster 3.000“ reinigen wie mit einem klassischen Pümpel.

Die Zugewinne der Baumarkt-Branche stammen aus einer anderen Richtung: Eher Verklemmte entdecken, dass sie als Heimwerker ihre dominante Art extrem gut ausleben können. Ein leidenschaftlicher Regensburger packt aus: „Ab Samstagmorgen acht Uhr mit der Kreissäge im Garten stehen und Lärm machen – das ist ein Gefühl von Macht, das kannst du mit nichts vergleichen. All das stumme Leid um dich herum, all die Leute, die sich hilflos im Bett winden, herrlich.“

Aber auch der Ausbau der neuen Dachgeschosswohnung, die Montage eines Flatscreen-Sockels oder Lackiererarbeiten in der Garage können eine ganze Familie in Agonie verbinden. Überhaupt das Familienleben – seit sich Mama und Papa nicht mehr nur psychisch fertigmachen, sondern richtig und im Bett, hängt der Haussegen wieder gerade – im Zweifel an den Hoden des Paterfamilias.

Woher stammt der Trend? Der BDSM (Bund deutscher Sadomasochisten) geht davon aus, dass es tatsächlich die „Shades of Grey“-Produktreihe war, die dafür gesorgt hat, dass sich SM-Fantasien in das Alltagsleben einschleichen konnten. Wer schon in der Buchhandlung Shades-of-Grey-Massageöle kaufen kann und sich in der Drogerie mit dem Shades-of-Grey-Deo versorgt, empfindet die in dem Buch geschilderten Exzesse irgendwann als völlig selbstverständlich.

Matthias Horx sieht darin auch eine politische Zukunft: „Früher haben wir von Vater Staat erwartet, dass er uns vor Zumutungen schützt, vor Schmerzen bewahrt. Aber hat die Figur des Vaters nicht auch eine andere Seite? Eine strafende, züchtigende?“ Und die Misserfolge der FDP in letzter Zeit führt Horx vor allem darauf zurück: „Die Leute wollen gar nicht noch mehr Freiheit. Im Gegenteil sollen die Fesseln strammer gezogen und das Gesicht soll noch tiefer in den Dreck gedrückt werden, bis jede Selbstachtung aufgehoben ist. Das hat die SPD viel, viel schneller verstanden.“

Das Interview endet endlich, Matthias Horx bindet sich erneut den Ballknebel um. Wenn er ihn das nächste Mal abgenommen kriegt, wird er sicher wieder einen neuen Trend ausspucken. Auch das haben wir „Shades of Grey“ zu verdanken.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.