Nachruf auf Jacques Delors: Rechten zu links, Linken zu rechts

Als Kommissionspräsident legte Jacques Delors die Grundsteine der heutigen EU – erst als Mitterands Verstaatlicher, dann als Kohls Liebling in Brüssel.

Jacques Delors am 21. October 1994 vor EU-Fahne im Hauptquartier der Kommission in Brüssel

Jacques Delors am 21. October 1994 im EU-Hauptquartier in Brüssel, ein Jahr vor dem Verzicht auf die Präsidentschaftskandidatur Foto: Nathalie Koulischer/Reuters

PARIS taz | Den Tod des früheren Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors, im Alter von 98 Jahren hat am Mittwoch seine Tochter, die vormalige französische Ministerin Martine Aubry, in Paris mitgeteilt. Europa verdankt Delors den europäischen Binnenmarkt, die Währungsgemeinschaft und den Euro, die Rechtsharmonisierung, den Erasmus-Studentenaustausch und die Perspektive der Integration über die wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Die zehn Jahre unter Delors Kommissionsvorsitz werden rückblickend als „Goldene Ära“ des europäischen Aufbaus gewürdigt. Seinen Glauben an die europäische Gemeinschaftsidee hat Delors nie verloren. Und bis zuletzt hat er bedauert, wie sehr immer wieder der Egoismus der Nationen über die unentbehrliche Solidarität gewinnt. Das war auch seine einzige Motivation, um sich in den letzten Jahren gelegentlich noch mit einem Appell an die Öffentlichkeit zu wenden.

Seit dem Ende seines Mandats in Brüssel 1995, und einige Monate zuvor, als er zur großen Überraschung seiner Landsleute und zur Enttäuschung vieler seiner sozialistischen Parteikollegen auf eine Präsidentschaftskandidatur in Frankreich verzichtete, hatte er sich aus der großen Politik zurückgezogen. Da Delors damals aufgrund seiner bedeutenden Rolle in Brüssel als möglicher Nachfolger von François Mitterrand und als Gegner von Jacques Chirac als Favorit für die Präsidentschaft galt, bleibt dieser im Fernsehen verkündete Verzicht ein historischer Moment in der französischen Mediengeschichte. Für die französische Linke war es eine verpasste Chance.

Bis heute ist in Frankreich vielen unverständlich, warum Delors, dem der Staatsdienst so wichtig schien, vor der Herausforderung, für die französische Republik die Verantwortung zu übernehmen, trotz ermutigender Wahlprognosen zurückwich. Als Erklärung nannte Delors damals die mangelnde politische Unterstützung seiner realpolitischen sozialdemokratischen Linie durch die Ge­nos­s*in­nen des Parti Socialiste (PS), aber auch „persönliche Gründe“.

Sein Ziel war nicht der Chefposten im Elysée-Palast

Anders als François Mitterrand, Jacques Chirac oder Nicolas Sarkozy war Delors nicht mit dem Lebensziel in die Politik gekommen, eines Tages in den Elysée-Palast einzuziehen. Trotz seiner außerordentlichen Aufgaben und Leistungen zuerst in Frankreich als Wirtschafts- und Finanzminister und danach als EU-Kommissionspräsident blieb er ein bescheidener und von Vertrauten sogar als etwas schüchtern beschriebener Mensch.

Jacques Lucien Jean Delors kam am 20. Juli 1925 als einziger Sohn in einer gläubigen katholischen Familie in Paris auf die Welt. Sein Vater arbeitete bei der Banque de France, in der Delors nach einem Abschluss in politischer Ökonomie an der Rechtsfakultät ebenfalls eine Stelle antrat. Trotz dieses Studiums war Delors weitgehend ein Autodidakt, der seine Kenntnisse und Fähigkeiten mehr seinem gewerkschaftlichen und politischen Engagement als der Uni verdankt.

Schon als Schüler war er Mitglied der Christlichen Arbeiterjugend, später im ebenfalls konfessionell ausgerichteten Gewerkschaftsbund CFTC. Der religiöse Delors wurde wesentlich von den Ideen des personalistischen Philosophen Emmanuel Mounier beeinflusst. Als Sozialberater des gaullistischen Premierministers Jacques Chaban-Delmas sah er 1969 erstmals eine Chance, mit dem Modernisierungsprojekt der „Société nouvelle“ (Neue Gesellschaft) in der Regierung seine progressiven Reformideen zu verwirklichen. Die waren den Rechten zu links und den Linken zu rechts und scheiterten am Widerstand von Präsident Georges Pompidou.

Delors zog die Konsequenzen und trat 1974 der von Mitterrand wiedervereinten Partei der Sozialisten bei, für die er 1979 für zwei Jahre als Abgeordneter in das erstmals gewählte Europäische Parlament einzog.

Auf Austeritätskurs umgeschwenkt

Trotz gewisser Differenzen und Bedenken wurde er nach Mitterrands Wahlsieg von 1981 Wirtschafts- und Finanzminister mit der Aufgabe, gemäß dem Reformprogramm der Linkseinheit mit den Kommunisten, Banken und Industriekonzerne zu verstaatlichen und parallel zu Sozialreformen per Nachfrageförderung die Wirtschaft zu stimulieren.

Nach Abwertungen des Franc musste er 1983 mit Mitterrands Zustimmung radikal auf einen Austeritätskurs umschwenken, um die Staatsfinanzen zu retten. 1984 wurde er für diese politisch undankbare Rolle durch Pierre Bérégovoy ersetzt. Auf Wunsch von Helmut Kohl wurde Delors 1985 Präsident der Europäischen Kommission.

Aus diesen zehn Jahren von 1985 bis 1995 hinterließ Delors' Vorsitz der EU wesentliche Änderungen: namentlich die Einheitliche Europäische Akte zur Verwirklichung des Binnenmarktes und die Verpflichtung, in den Mitgliedsstaaten das Recht den europäischen Richtlinien anzugleichen.

Der Delors-Bericht („Delors-Weißbuch“) mit einem Dreistufenplan von 1989 war zudem die Grundlage für den Maastricht-Vertrag und die Wirtschafts- und Währungsunion. Anders als manche französische Spitzenpolitiker befürwortete er nach 1989 vorbehaltlos die deutsche Wiedervereinigung. Heute wird Delors als „Architekt“ der heutigen EU und als wichtigste europäische Gründerfigur seit Jean Monnet gewürdigt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.