Neue Aktienrente: Kapitalgedeckte Pleite

Die Aktienrente soll es nun richten – ein gefährlicher Irrweg: An der Börse geht es nicht um Werte, sondern um Zukunftserwartungen und Spekulation.

Fallende Aktienkurve

Kurve im Fall Foto: Arne Dedert/dpa

Jetzt ist es so weit: 10 Milliarden Euro für die Aktienrente werden im Haushalt des kommenden Jahres bereitgestellt – und Finanzminister Christian Lindner sieht es nur als einen Anfang an und fordert bereits eine weitere Aufstockung der Summe.

Die 10 Milliarden werden tatsächlich auch im Koalitionsvertrag als ein erster Schritt angesehen. Die Aufweichung des bisherigen Umlageverfahrens scheint kaum noch abzuwenden. Umlageverfahren bedeutet, dass die Rentenbeiträge der Arbeitnehmer für die aktuellen Renten verwendet werden. Die Aktienrente dagegen ist auf erfolgreiche Investitionen an der Börse angewiesen.

Die Befürworter einer kapitalgedeckten Rente scheinen volkswirtschaftlich schlecht geschult zu sein. So formulierte schon 1952 der Soziologe Gerhard Mackenroth: „Nun gilt der einfache und klare Satz, dass aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss. Es gibt gar keine andere Quelle (…), es gibt keine Ansammlung von Periode zu Periode, kein ‚Sparen‘ im privatwirtschaftlichen Sinne, es gibt einfach gar nichts anderes als das laufende Volkseinkommen als Quelle für den Sozialaufwand (…). Volkswirtschaftlich gibt es immer nur ein Umlageverfahren.“

Mackenroths Befund passt auch zur heutigen Realität ganz hervorragend. Die Gesellschaft lebt immer von dem, was gerade produziert oder als menschliche Dienstleistung aktuell angeboten wird.

Wir essen nicht das früher angesparte Brot, und Pflege und Kinderbetreuung gehen nur durch gerade Arbeitende. Das war schon immer so. Für gespartes Geld gibt es also nur Leistungen, wenn gerade genug Arbeit und deren Ergebnis angeboten wird. Geld kann man nicht essen. Insofern ist das Umlageverfahren der gesetzlichen Rente ganz natürlich. Die aktuell Arbeitenden versorgen die Alten, die Jungen, die nicht Arbeitenden und sich selbst.

Warum also der Umweg über Kapitalansammlungen? Zunächst einmal, weil daran viele Firmen verdienen. Offensichtlich sind das Versicherungsunternehmen mit Produkten, bei denen teils nicht einmal die eingezahlten Gelder wieder ausgezahlt werden. Die nächste Gewinnergruppe sind die Unternehmer: Über die Auslagerung eines Teiles der Rente an die Privaten können sie sich aus der paritätischen Finanzierung verabschieden und ihren Beitragsanteil deckeln. Für jeden Prozentpunkt weniger in die Gesetzliche waren das mehr als 5 Milliarden Euro jährlich. Kein Wunder, dass sie für die private Rente getrommelt haben.

In einer Phase mit hohen Preisen einsteigen, um in schlechten Zeiten zu verkaufen, kann nur zum Verlust führen

Mangelnde volkswirtschaftliche Bildung vieler Po­li­ti­ke­r*in­nen erleichterte den Privatisierern der Rente das Geschäft. So kann man hohe private Renten versprechen, obwohl die gesamtwirtschaftliche Produktion nicht für eine vernünftige gesetzliche Rente ausreicht. Wenn die künftige arbeitende Generation zu klein ist, wer stellt die Güter für alle dann her, wer kauft Privatversicherungen oder die von den Versicherungen angesparten Wertanlagen? In einer Phase mit hohen Preisen für Immobilien, Boden, Geldanlagen und Aktien einsteigen, um in schlechten wirtschaftlichen Zeiten zu verkaufen, kann nur zum Verlust führen.

Und jetzt soll es der Aktienmarkt richten? Klar verlockt der Blick auf die Entwicklung der vergangenen Jahre. Aber eine Aktienrente würde die Nachfrage nach Aktien und damit ihre Preise steigern – dabei sind diese Preise durch die lockere Geld- und Zinspolitik der Vergangenheit schon sehr hoch. Nur was passiert, wenn die Aktien für die Renten verkauft werden müssen? Die Preise rauschen in den Keller. Der scheinbare Ertrag der Vergangenheit ist dahin, wenn dieser im großen Stil am Aktienmarkt materialisiert werden soll.

Spielfeld für Zocker

Ein, zwei Tellerwäscher können zu Millionären aufsteigen, aber nicht ein paar Millionen. Wer glaubt, dass steigende Aktienwerte etwas mit gestiegenem Vermögen zu tun haben, möge sich den US-Elektroautobauer Tesla ansehen. An der Börse waren dessen Aktien Ende 2021 mit rund 970 Milliarden Dollar mehr wert als alle anderen großen Autokonzerne zusammen. Und das trotz niedriger Gewinne. Hier geht es nicht um Werte, sondern um Zukunftserwartungen und Spekulationen der Börsianer. Die Börse ist für Zocker ein Spielfeld, aber nicht für eine sichere, langfristig angelegte Rente.

Die Schwächen kapitalgedeckter Rentensysteme aufzuzeigen ist natürlich einfach. Selbst die Befürworter geben vieles davon zu, verweisen deshalb gerne auf den Mangel an Alternativen. Dazu müssen sie die gesetzliche Rente aber schlechtreden. Und das tun sie fast unisono. Ja, die Ausgaben für die gesetzliche Rentenversicherung steigen ständig; aber nicht stärker als der gesellschaftliche Wohlstand. Im Jahr 2000 wurden etwas mehr als 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts dafür ausgegeben. Jetzt sind es knapp 10 Prozent – und das, obwohl sich die Zahl der Rent­ne­r*in­nen um gut 17 Prozent erhöht hat.

Die gesetzliche Rente hat in dieser Zeit dem Anstieg der Lebenserwartung von 2,8 Jahren bei Frauen und 4,1 Jahren bei den Männern erfolgreich getrotzt. Und das, obwohl Verbesserungsmöglichkeiten bewusst nicht ergriffen wurden: Eine Erwerbstätigenversicherung (die auch Selbstständige und Beamte umfassen würde), eine höhere Beitragsbemessungsgrenze, moderat mit der wachsenden Wirtschaftsleistung steigende Beiträgssätze oder der Abbau von Niedriglohnsektor oder Arbeitslosigkeit ergäben viel Spielraum. Ein Blick nach Österreich mit seinen relativ hohen Renten und seiner trotzdem höheren Wirtschaftskraft pro Kopf zeigt diese Potenziale.

Die gesetzliche Rentenversicherung hat in der Vergangenheit vielfältige Probleme überwunden, an denen kapitalgedeckte Systeme jämmerlich gescheitert wären: Erwähnt seien nur Wiedervereinigung und Finanzkrisen. Wir sollten das System nicht in Rente schicken, sondern ausbauen und gesund pflegen, statt die nächste kapitalgedeckte Pleite zu organisieren.

Gerd Bosbach ist Renten­experte und hat bis 2019 als Professor für Statistik und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung am RheinAhrCampus der Hochschule Koblenz gelehrt.

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