Politologin zu Grundsatzprogramm der CDU: „Migration als Sicherheitsthema“

Im Entwurf zum Grundsatzprogramm greift die CDU den Leitkultur-Begriff erneut auf. Politikologin Christina Zuber sagt, die Partei tue sich damit kein Gefallen.

Gastarbeieter an einem Fliessband in einer Autofabrik

Nicht nur die Trümmerfrauen haben Deutschland aufgebaut, auch die Gastarbeiter, so Zuber Foto: Günay Ulutuncok/akg-images

Frau Zuber, die CDU hat einen Entwurf für ihr Grundsatzprogramm veröffentlicht. Können Sie eine Lücke im konservativen Parteienspektrum in Deutschland feststellen?

In der Forschung haben wir gesehen, dass sich besonders in den Jahren der immer wiederkehrenden großen Koalitionen die Programmatik von CDU und SPD einander angenähert hat. Man kann schon sagen, dass sowohl nach rechts als auch nach links eine Lücke entstanden ist. Die CDU besinnt sich wieder auf Dinge, die sie auch früher stärker vertreten hat. Man findet in dem Entwurf jetzt mehr Referenzen auf Kultur, auf Tradition, wobei es auch einen gewissen Mischmasch gibt.

Wie meinen Sie das?

Was ich wirklich spannend fand beim Lesen des Programmentwurfs, war, wie viel Konservatismus nun wirklich drin steckt. In einem Absatz mit dem Titel „was wir wollen“ steht eigentlich alles gleichzeitig: Die CDU will eine liberale Partei sein, eine konservative, eine christdemokratische und auch eine sozialdemokratische. Das einzige, was eigentlich ausgeschlossen ist, ist, dass sie keine explizit grüne Partei sein will.

Christina Zuber ist Professorin für deutsche Politik an der Universität Konstanz. Sie forscht zu politischen Parteien, Föderalismus sowie zu Migrationspolitik.

In dem Entwurf definiert die CDU den Konservatismus als eine Herangehensweise, „die Gegenwart und Zukunft im Wissen um Tradition und die Erfahrungen unserer Zivilisation zusammendenkt“. Teilen Sie diese Definition?

Dass Tradition und nicht irgendwelche allgemeinen Prinzipien die Basis für Politik sind, deckt sich mit der theoretischen Einordnung von Konservatismus als Ideologie. Aber bei der Mitgliederbefragung zum Grundsatzprogramm haben die Mitglieder der CDU auf die Frage, was sie unter dem „C“ verstehen, geantwortet: Freiheit. Das fand ich total interessant.

Warum?

Freiheit wird in dem Programm sehr stark betont, schon der Titel lautet ja „In Freiheit leben“. Aber gleichzeitig stehen im Programm diese kulturellen Einengungen, und der Bezug auf die christliche Tradition ist eigentlich nicht liberal. Kultur, wie wir sie in Deutschland zufälligerweise historisch entwickelt haben, hat für die CDU einen moralisch autoritativen Status. Das verträgt sich überhaupt nicht mit dem klassischen Liberalismus, der ja diese Autoritäten alle loswerden möchte und den einzelnen oder die einzelne in ihrer freien Entfaltung betrachtet.

Liberalismus und Subsidiarität, betreibt die CDU einfach name dropping?

Subsidiarität finde ich sehr kompatibel mit diesem konservativen Kerngedanken, dass man Politik pragmatisch gestaltet, so wie sie gewachsen ist. Was man in der Gesellschaft vorfindet wird als schützenswert betrachtet und nicht von oben umgestaltet. Menschen leben in Familien, Menschen haben religiöse Überzeugungen. Okay, dann bauen wir jetzt vorsichtig ein bisschen Staat dazu. Konservatismus, gerade im britischen Sinne, ist ja auch eher Staats-skeptisch.

Die CDU versucht mit dem Programm ihre Position als Partei von Law and Order auszubauen. Sehen Sie hier Widersprüche zu den Ausführungen zum Liberalismus?

Der Fokus auch auf innere Sicherheit ist ein Markenkern aller Mitte-Rechts-Parteien, auch von Rechts-außen. Dinge, die man auch anders diskutieren könnte, werden zum Teil bewusst als Sicherheitsrisiko darstellt. Migration ist bei Kräften links der Mitte oft ein ökonomisches Thema oder eine Frage von humanitärer Hilfe oder internationaler Solidarität.

Für Mitte-rechts-Parteien wird Migration immer sehr schnell auch zum Sicherheitsthema. In der Parteienforschung gibt es das Konzept der Themenführerschaft, und diese Issue Ownership wird Parteien rechts der Mitte eben bei Sicherheitsfragen zugeschrieben. Insofern ist dieser Fokus erwartbar. Eine größere Öffnung zu liberalen Positionen sehe ich dagegen in der Familienpolitik.

Wirklich?

Ja, oder zumindest eine Erkenntnis, dass sich die Gesellschaft gewandelt hat. Bei der Abstimmung zur „Ehe für alle“ 2017 war der Fraktionszwang aufgehoben, und es haben doch einige, auch prominente CDU-Politiker, dagegen gestimmt. Von daher ist es schon eine Öffnung, wenn die CDU in ihrem Grundsatzentwurf jetzt schreibt, die Ehe sei eine „Verantwortungsgemeinschaft zweier Menschen“, so steht es drin, und nicht etwa eine Verbindung zwischen Mann und Frau. Das christliche Menschenbild oder die katholische Kirche könnte da Anderes nahelegen.

Wo sehen sie denn aktuell die größten Herausforderungen für die Union?

Die größte Herausforderung ist die, die alle Mitte-rechts-Parteien in Europa haben: Wie sie mit den Rechtsaußen-Parteien umgehen.

Sehen Sie im Grundsatzprogramm der Union da genug Abgrenzung zur AfD?

Ja, sehe ich schon. Eine klar andere Position nach rechts außen sehe ich etwa in der Haltung gegenüber Europa. Die christdemokratischen Parteien sind ja selber die Mitbegründer der europäischen Integration, und das findet sich hier im Programm auch wieder, wenn die CDU sagt, sie sei die „deutsche Europapartei“.

Aber was ist mit dem Thema Migration? Hier versucht sich die CDU doch ganz deutlich, sich wieder weiter rechts zu verorten.

Ich finde eigentlich, das ist eher eine Rückbesinnung auf Dinge, die die CDU eben vor Angela Merkel auch so vertreten hat. Wenn man sich nochmal anschaut, wie die CDU in den Debatten agiert hat, die 1993 zum so genannten Asylkompromiss geführt haben, dann finde ich es bisschen seltsam zu sagen, die CDU ginge auf die AfD zu. Im Bereich der Migration vertritt sie wieder Dinge, die sie früher selbst geprägt hat, etwa mit dem Begriff der Leitkultur, der aus der Mottenkiste wiedergekehrt ist.

Wie erklären Sie sich das mit der Leitkultur?

Ich kenne Friedrich Merz nicht persönlich, aber ich habe mich tatsächlich gefragt, ob das einfach ein bisschen sein Ding war. Man hätte aus meiner Sicht strategisch etwas sehr viel Klügeres machen können: Man hätte sagen können, man macht eine Besinnung auf gewisse Grundwerte, die wir alle teilen, die aber inklusiv sind. Das sind dann eben keine Werte, die man nur haben kann, wenn die Großeltern aus Deutschland kommen, sondern Dinge wie sozialer Aufstieg durch Bildung, das Bekenntnis zum Rechtsstaat, politische Gleichheit.

Das steht doch tatsächlich so ähnlich auch im Programmentwurf.

Ja, aber wer gleichzeitig den Begriff der Leitkultur nutzt, verwendet einen Kampfbegriff. Aus der Migrationsforschung weiß ich, dass man inhaltlich einige dieser Dinge anders sagen könnte. Es gibt eine Passage im Programm, die sehr schön die allgemeinen Werte darlegt, die den Kern liberaler Demokratie ausmachen. Hier hätte man hinzufügen können, okay, weil wir aber eine konservative Partei sind, sind uns paar Traditionen auch wichtig, ohne dies mit dem Begriff der Leitkultur zu verbinden.

Was würde das bringen?

Eine Besinnung auf gemeinsame Werte ist bei aller Vielfalt, die wir haben, nichts Kontroverses. Deutschland ist auch ein Einwanderungsland, wir haben das, was wir sind, auch Generationen von Gastarbeitern zu verdanken. Im Programm wird über Menschen geredet, die das Land nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben, wer aber nicht erwähnt wird, sind die, die in den Sechzigern dafür hergekommen sind. Angela Merkel hat es klar gesehen: Viele Einwandererfamilien teilen durchaus konservative Vorstellungen, wenn sie beispielsweise Familie und Traditionen wertschätzen.

In der Migrationspolitik strebt die CDU mit dem Programmentwurf eine Auslagerung der Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb der EU an. Demnach sollen Geflüchtete gar nicht mehr in der EU Zuflucht finden können, sondern auch dieser Schutzanspruch soll in andere EU-Staaten ausgelagert werden. Wie bewerten Sie das?

Ich sehe das als ein Luftschloss für eben jene Leute, die sich wünschen, dass wir hier einfach den Laden dicht machen können und uns dann selektiv Leute reinholen. Ich finde das einfach schon von der Verwaltungsdimension her fragwürdig. Wo sind denn die demokratischen Rechtsstaaten, die ein funktionierendes Asylsystem in Kooperation mit Deutschland gewährleisten können? Ich kann das nicht ganz ernst nehmen.

In der CDU sitzen ja auch einige Juristinnen und Juristen. Die werden sich doch schon was dabei gedacht haben.

Es ist ja auch ein Grundsatzprogramm und kein Gesetzesentwurf. Wir können daraus jetzt nicht ableiten, wie die CDU das machen würde. Aber ich glaube, dahinter steckt ein reales Problem, nämlich die Frage, wie wir damit umgehen, dass wir politisch Verfolgten Asylrecht geben können, aber nicht Menschen, die aus anderer Motivation nach Deutschland kommen.

Würden Sie dann sagen, das ist eigentlich ein ganz guter Aufschlag für eine Auseinandersetzung, den die CDU da macht?

Ich würde nicht sagen, gut im Sinne von irgendwie zu Ende formuliert. Aber gut in dem Sinne, dass es eine Einladung sein könnte, jetzt auch mal zu sagen, wie es gehen könnte. Man muss klare, legale Wege schaffen, wie man jenseits des Asylrechts legal nach Deutschland einwandern kann.

Die CDU steht hier vor einem Dilemma, das typisch für Mitte-rechts Parteien ist. In wirtschaftlicher Hinsicht vertritt sie Arbeitgeber, die ein starkes Interesse an Zuwanderung in den Arbeitsmarkt haben. In kultureller Hinsicht definiert sie Einwanderung aber als Problem. Wenn wir aber nur den Weg der Flucht haben, dann landet man bei einem System, in dem die Leute über das Asylsystem in den Arbeitsmarkt einwandern. Das ist ein schizophrenes Konstrukt, aber die CDU hat als am längsten in der Bundesrepublik regierende Partei viel dazu beigetragen, dass es so ist.

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