So­zi­al­ar­bei­te­r über Jugendhilfe: „Viele fühlen sich nicht gehört“

Hamburgs Ombudsstelle „Oha!“ berät seit zwei Jahren Kinder, Jugendliche und Familien bei Konflikten mit dem Jugendamt. Sie hat viel zu tun.

Vier hellblaue Ballons mit Aufschrift "Oha" schweben in der Luft.

Bei Hamburgs Ombudsstelle melden sich häufig Mütter, aber auch Väter und junge Menschen Foto: Ombudsstelle Hamburg

taz: Frau Mayer, Herr Jahn, in Hamburg gibt es seit zwei Jahren Ihre Ombudsstelle. Wofür ist die eigentlich da?

Erik Jahn: Wir beraten Kinder, Jugendliche und ihre Familien zu Fragen der Kinder und Jugendhilfe und bei Konflikten mit Jugendamt und freien Trägern. Weil es da in der Struktur zwischen Fachkräften und Nutzern ein Machtgefälle gibt. Bei Bedarf beraten wir auch Fachkräfte. Die erste Ombudsstelle dieser Art entstand vor 20 Jahren in Berlin. In Hamburg gibt es uns seit 2021.

Wer nutzt die Ombudsstelle?

Lisann Mayer: In erster Linie Mütter, dicht gefolgt von Vätern und jungen Menschen. Und eben Fachkräfte, die oft als Brücke zu Betreuten fungieren. Manchmal auch Vormünder, Omas oder Pflegeeltern.

Nennen Sie bitte ein ­Beispiel.

Jahn: Eine Mutter wendet sich stellvertretend für sich und ihren Partner an uns, da ihr Kind vor geraumer Zeit in Obhut kam. Es gibt jetzt begleitete Umgänge, und die Mutter weiß gar nicht, wie sie als Eltern von der Umgangsbegleiterin und ihrem Kind wahrgenommen werden. Es sind oft basale Sachen. Dass eine Rückmeldung fehlt, dass Menschen sich im Kontakt mit Institutionen ohnmächtig fühlen. Und Angst haben zu fragen oder zu einem Vorschlag Nein zu sagen.

Wie oft sind es Mütter?

Mayer: So etwa 55 Prozent. Auch bundesweit stellen Mütter die größte Gruppe der Ratsuchenden an Ombudsstellen.

35, ist Sozialpädagogin bei der Ombudsstelle Hamburg in der Kinder- und Jugendhilfe, zuvor arbeitete sie beim ASD-Altona.

Machen die Behörden was falsch im Eltern-Umgang?

Mayer: Das lässt sich nicht pauschal sagen. Hamburg hat sieben Bezirke, da läuft es überall etwas anders. Was wir beobachten ist: Es fehlt die Zeit für ein Miteinander. Managementprozesse ersetzen die soziale Arbeit. Dadurch fühlen sich Menschen nicht mehr gesehen. Die Fachkräfte sagen, wir haben keine Zeit für Beziehungsarbeit. In einigen Bezirken heißt es sogar: Wir machen nur noch Kinderschutz. Da fallen Familien hinten über.

Jahn: Wir erleben, dass die Krise in der Jugendhilfe – also hohe Fallzahlen und mangelndes Personal – die Art beeinflusst, wie Familien das Jugendamt erleben. Die fühlen sich gar nicht gehört oder bekommen Verfahrensweisen gar nicht erläutert. Das ist beim Kinderschutz, wo es um Vertrauen geht, besonders problematisch.

Und was können Sie tun?

Mayer: Erst mal aufklären. Bevor ich Rechte einfordere, muss ich wissen, welche Rechte ich habe. Wir haben keine Weisungsbefugnis, wir sprechen Empfehlungen aus.

Eine Mutter sieht ihr Kind sechs Wochen nicht. Das tut ihr weh. Was kann sie tun?

33, ist Sozial­pädagoge bei der Ombudsstelle Hamburg und war zuvor in der ambulanten Jugend- und Familienhilfe tätig.

Mayer: Dann klären wir sie über das Umgangsrecht und das Besuchsrecht auf und darüber, wie sie dies einfordert. Zum Beispiel, dass sie sich auch ans Familiengericht wenden kann. Diese Aufklärung ist maßgeblich. Sie passiert viel zu wenig. Dann ist das Zweite: begleiten, wenn die Ratsuchenden das wünschen. Wir begleiten sie zu einem Hilfeplangespräch oder rufen im Jugendamt an, wie der Sachstand ist – mit Schweigepflichtsentbindung natürlich. Unser Ziel ist immer, dass wir die Menschen befähigen, das selbst zu tun.

Auf Ihrer Seite steht, sie haben viel zu tun und können nicht in fünf Tagen zurückrufen.

Jahn: Wir haben im Frühherbst 2021 die Stelle aufgebaut und hatten im letzten Jahr 136 Beratungen. Und in diesem Jahr sind es bisher 217 und bis Jahresende gewiss über 300.

Wie viele Leute sind Sie denn?

Mayer: Drei Sozialpädagoginnen, eine Projektleitung, eine Verwaltungskraft und an die 25 Ehrenamtliche, die die Beratung machen sollen. Aber im Moment übernehmen wir Hauptamtlichen sehr viel selbst. In der Regel rufen wir innerhalb von drei bis fünf Tagen zurück.

Haben sich Praktiken beim Jugendamt schon verbessert?

Jahn: Es gab beim Jugendamt große Sorge vor uns. Da half es, dass wir denen unser Ziel erklären konnten. Dass wir junge Menschen dabei unterstützen, innerhalb einer Machtasymmetrie zu agieren. Anders als bei einer Dienstaufsichtsbeschwerde reden wir ja mit den beteiligten Akteuren direkt. Wir klettern also nicht die Hierarchieleiter hoch, unterstützen die Beteiligten im direkten Dialog.

Mayer: Ich erlebe eine Offenheit bei den Fachkräften. Bei uns rufen auch Menschen an und sagen: Ich wurde durch mein Jugendamt auf Sie hingewiesen. Wir werden inzwischen als natürlicher Baustein angesehen. Und setzen wir uns einmal im Jahr mit den Jugendamtsleitungen zusammen, dann sagen wir schon, wenn uns in einem Bezirk auffiel, dass die telefonische Erreichbarkeit unzureichend ist. Da wird reagiert. Kleinschrittig tut sich was.

Was haben denn Kinder und Jugendliche für Beschwerden?

Zum Beispiel sagte uns eine Jugendliche, dass es ihr in ihrer Wohngruppe zwar total gut geht. Dass sie aber davor zehn Jahre in einer Lebensgemeinschaft wohnte und dort Gewalt erlebt und beobachtet habe. Da gab es ein gutes Gespräch im Jugendamt mit einer Fachkraft, die das ernst nahm, die sich wiederum an die Heimaufsicht wandte. Und so weiter.

Also eine Beschwerde im Nachhinein über Erlebtes?

Jahn: Genau. Und in einem sicheren Raum, wo sie sich wohl fühlte. Ansonsten gibt es so ganz konkrete Sachen. Junge Menschen in Unterbringung sagen, sie fühlen sich zum Beispiel diskriminiert durch Betreuer oder über ihre Rechte nicht ausreichend aufgeklärt. Auch Taschengeld ist ein großes Thema. Wir hatten jüngst einen Fall, da wurden pro T-Shirt, das auf dem Boden lag, 20 Cent abgezogen.

Mayer: Das ist noch gang und gäbe, obwohl es nicht erlaubt ist.

Jahn: Ein Thema ist, dass von jungen Menschen ab 18 viel Selbstständigkeit verlangt wird. Und hier wird auch innerhalb der Gruppe der jungen Volljährigen zwischen geflüchteten und nicht geflüchteten unterschieden. Weil der Fachdienst Flüchtlinge beim Kinder und Jugendnotdienst (KJND) überlastet ist, landen viele von denen von heute auf morgen in den Wohnunterkünften und müssen da mit 400 bis 500 Menschen irgendwie leben, wo es kaum Sozialpädagogen gibt. Das ist ein massives Problem. Damit diese jungen Menschen dann wieder Jugendhilfe für junge Volljährige erhalten, dafür braucht es ganz konkret Menschen, die sie unterstützen.

Mayer: Und es fehlen Vormundschaften. Es gibt hier 84 Minderjährige, die keine haben.

Es gibt die Forderung, den Kinder und Jugendnotdienst zu dezentralisieren. Wäre das gut?

Jahn: Wir finden schon, dass der KJND in seiner jetzigen Struktur nicht den Bedarfen der jungen Menschen entspricht.

Mayer: Wir brauchen mehr bedarfsgerechte Wohngruppen und weniger Kriseneinrichtungen.

Wenden sich auch Kinder an Sie, die aus ihren Heimen rausgeflogen sind?

Jahn: Vereinzelt haben uns dazu bereits Anfragen erreicht. Eine Gruppe, die wir bisher noch nicht erreichen konnten, sind die außerhalb Hamburgs Untergebrachten auf dem Land. Da ist die Abhängigkeit noch sehr viel größer. Auch die Angst, dass es vielleicht irgendwie zum Nachteil ausgelegt wird, wenn sie sich an eine Ombudsstelle wenden.

Wem gegenüber sind Sie zur Rechenschaft verpflichtet?

Jahn: Wir sind den jungen Menschen und ihren Familien verpflichtet, dass die fachlichen Standards des Sozialgesetzes eingehalten werden. Darüber hinaus sind wir der Fachwelt verpflichtet, als Teil der Qualitätsentwicklung unsere Beobachtungen und fachpolitischen Forderungen in das System zurückzuspeisen.

Man sah Ihr Plakat bei einer Demo gegen geschlossene Heime. Dürfen Sie sich fachpolitisch positionieren?

Absolut! Die fachpolitische Arbeit ist eine wesentliche Säule von Ombudschaft in der Kinder- und Jugendhilfe.

Jahn: Es gibt den Paragrafen 4a im Sozialgesetzbuch VIII zu Selbstvertretungsorganisation. Daher ist es uns ein Anliegen, junge Menschen dabei unterstützen, wenn sie sich zu ihren Themen selbst organisieren.

Was für ein Jugendamt wünschen sie sich?

Jahn: Eines, das leicht erreichbar ist und vor Ort vertrauensvoll agiert. Das auf die Bedürfnisse der Familien eingeht und gemeinsam nach tragfähigen Lösungen sucht.

Mayer: Eines, das nicht über junge Menschen spricht, sondern mit ihnen. Also bitte wieder zurück zur Beziehungsarbeit und weg von zu viel Verwaltung.

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