Ukraine-Krieg und Kirgistan: Die Wunde ist noch offen

Der kirgisische Regisseur Schamil Dyikanbaew bringt Werke des Schriftstellers Tschingis Aitmatow auf die Bühne. Die Klassiker sind wieder aktuell.

Manuel Fazzini

Bühnenbild zu der Erzählung „Aug in Auge“ von Tschingis Aitmatow Illustration: Manuel Fazzini

BERLIN taz | Der Krieg in der Ukraine hat zweifellos seine Spuren in allen Lebensbereichen der Menschen hinterlassen. Seine Folgen sind im postsowjetischen Raum besonders deutlich zu spüren. In dem zentralasiatischen Land Kirgistan hat der Krieg nicht nur Auswirkungen auf geopolitische Prozesse, die Wirtschaft und den sozialen Bereich, sondern auch auf die Kunst. Der Krieg hat auch mich aufgerüttelt und zum Umdenken gebracht. Er hat Wunden aufgerissen, die verheilt zu sein schienen.

Zeitgenössische moderne Kulturschaffende greifen auf Erfahrungen vergangener Jahre zurück und suchen nach Antworten auf Fragen, mit denen die Menschheit während des Zweiten Weltkriegs konfrontiert war und die sich jetzt erneut stellen. Aber es gibt immer noch keine Antworten, es gibt nur endlose Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Auch im Theater wird der Krieg zum Thema gemacht. Im Kirgisischen Akademischen Schauspieltheater in Bischkek fand die Uraufführung des Stücks „Aug in Auge“ statt. Dieses Stück basiert auf der Geschichte des berühmten sowjetischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow, dessen Jugend in die Zeit des Zweiten Weltkriegs fiel.

Aitmatow gehörte zu den jungen Leuten, die mit den Frauen die Strapazen des Lebens im Krieg im Hinterland auf sich nahmen, während Väter, Brüder und Ehemänner an der Front waren. In den 50er Jahren debütierte er als Autor und verfasste zahlreiche Prosawerke auf Russisch und Kirgisisch. Alle seine Arbeiten sind vom Thema Krieg durchdrungen. Aitmatows Werke sind zu Klassikern geworden. Ihre Relevanz dauert fort, besonders heutzutage hat die Auseinandersetzung mit seinen Werken eine große Bedeutung.

Wie ein Deserteur im kirgisischen Dorf versteckt wird

Der junge Bischkeker Regisseur Schamil Dyikanbaew hat die Helden von Aitmatows Erzählung „Aug in Auge“ auf die Bühne gebracht – die Geschichte einer Familie aus einem entfernten kirgisischen Dorf. In dem Stück gibt es keine Schlachten, Panzer, Schützengräben oder Heldentaten, sondern es geht um den allgegenwärtigen Krieg, der sich kalt und gnadenlos in das Leben aller einschleicht, auch im fernen Hinterland.

Die Hauptheldin Seyde ist gezwungen, ihren von der Front geflohenen Ehemann zu verstecken, einen Deserteur. Die Frau ist hin- und hergerissen zwischen ihrem Verständnis von der patriarchalischen Rolle einer Ehefrau und ihrem Gefühl, ihre staatsbürgerliche Pflicht zu erfüllen. Sie wird von Scham zerrissen.

Gleichzeitig träumt sie davon, dass der Krieg endet und die ganze Familie in ein Märchenland geht und dort ein neues Leben beginnt. Doch die Realität erweist sich als viel härter. Das Finale des Stücks ist weit von Seydes idyllischen Vorstellungen entfernt – genau so wie das Ende eines jeden Krieges.

Diese Erzählung wurde 1957 veröffentlicht, aber die Realität dieser Jahre ist mehr denn je mit der Gegenwart verknüpft. Was ist Krieg? Was ist der kleine Mann in einem Krieg? Wie weit ist er bereit zu gehen, um zu überleben? Viele Jahre später sucht auch der Regisseur, der sich mit diesem Werk beschäftigt hat, nach Antworten auf diese Fragen.

„Obwohl der Krieg irgendwo in der Ferne stattfindet, habe ich persönlich das Gefühl, als ob er hier neben uns sei. Der Krieg damals und heute hat uns direkt betroffen. Obwohl so viele Jahre vergangen sind, hat jede Familie eine offene Wunde in Form der Erinnerung an diese Ereignisse. Es ist so wichtig, dass sich diese Situation nicht wiederholt – aber darüber wird heute sehr wenig gesprochen“, sagt Schamil Dyikanbaew.

Kriegsgefangene und Desertion im postsowjetischen Raum

Desertion und das Thema Kriegsgefangene gelten im postsowjetischen Raum, auch in der Kunst, immer noch als Tabu. Mit seiner neuen Inszenierung versucht Dyikanbaew, diesen blinden Fleck zu verkleinern. Denn Krieg – das sind nicht nur Helden, die sich schützend vor ihr Volk stellen, sondern auch Menschen, die durch schreckliche, tragische Ereignisse ihr menschliches Antlitz verlieren.

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Aber um eine Krankheit zu heilen, muss man zuerst eine Wunde aufreißen. Darin sieht der Regisseur den Sinn seiner Arbeit.

„Das größte Übel ist der Faschismus, der immer noch in vielen Menschen steckt. Sie zeigen es vielleicht nicht offen, aber ich bin sicher, dass das so ist. Und egal, wie sehr wir uns verstecken, es gibt kein Entrinnen“, sagt der Regisseur des Stückes.

Jetzt arbeitet Dyikanbaew an dem Stück „Frühe Kraniche“, das ebenfalls auf Aitmatows Werk basiert. Die Produktion wird in einem der regionalen Theater Kirgistans gezeigt werden. Sie erzählt von den Kriegskindern, die ihre Väter verloren haben und zu früh erwachsen wurden.

Dyikanbaew inszeniert vor allem Aufführungen für das Kammertheater. Hierbei handelt es sich um ein Format, bei dem ein kleiner Saal oder ein kleines Gebäude für Künstler und Zuschauer auf eine spezielle Art ausgestattet sind.

Die Stühle stehen direkt auf der Bühne – so erlebt das Publikum das Geschehen intensiver. Trotz der Beschränkungen der Zuschauerzahl erfreuen sich solche Produktionen inzwischen großer Erfolge. Die Säle sind meist bis auf den letzten Platz gefüllt. Bei der Aufführung „Aug in Auge“ gab es gerade einmal 100 Sitzplätze. Alle waren besetzt.

„Dies ist eines meiner Lieblingswerke von Aitmatow. Für mich als Kind hat sich immer die Frage gestellt: Warum ist es ein Verbrechen, nicht in den Krieg zu ziehen? Heute ist diese Geschichte aktueller denn je, auch wenn viele Jahre vergangen sind. Ich bin dem Utschur-Theater und Dyikanbaew dankbar, dass sie sich dieser Thematik angenommen und mir die Möglichkeit gegeben haben, Fragen zu stellen, die heute relevant sind. Die Intimität der Aufführung hat es möglich gemacht, in die Dialoge eingebunden zu werden und die Intensität der Emotionen zu spüren. Allerdings hätten die Schauspieler besser sein können“, findet die Zuschauerin Tynymgul Eschiewa.

Es waren viele junge Leute da. Aber es schien, dass ihnen das Thema des Zweiten Weltkriegs nicht so nah war. Und die Werke Aitmatows hatten viele nicht gelesen.

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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