Vor dem Verdi-Bundeskongress: Umsonst gestreikt

Verdi hat dieses Jahr so viel gestreikt wie lange nicht mehr. Die Basis ist aber unzufrieden. Chef Frank Bsirske muss sich ihrer Kritik stellen.

Porträt Frank Bsirske

Der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske steuert auf eine fünfte Amtszeit zu. Foto: dpa

BERLIN taz | Frank Bsirske wirkt müde, als er Mitte August im Hotel Sheraton in Offenbach vor die Presse tritt. Die Tarifverhandlungen im Sozial- und Erziehungsdienst stecken in einer Sackgasse. „Wir haben damit eine klare Weichenstellung auf der Arbeitgeberseite auf eine Eskalation des Konflikts“, formuliert Bsirske etwas umständlich. „Wir beginnen jetzt mit den Vorbereitungen der Streiks.“

Noch nie hat Bsirske, der Gewerkschaftsführer, einen solch kämpferischen Satz so unkämpferisch vorgetragen. Es liegt daran, dass Bsirske diesen Streik nicht will.

Ab Oktober werden trotzdem zahlreiche kommunale Kindertagesstätten erneut geschlossen bleiben. Darauf hätte die Verdi-Spitze gern verzichtet. Die Verhandlungsführer hätten lieber einer Schlichtungsempfehlung zugestimmt, die den rund 240.000 Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst nur geringe Verbesserungen gebracht hätte.

69 Prozent der Verdi-Mitglieder stimmten aber dagegen – ein Novum. „Wir haben den Schlichterspruch für anschlussfähiger gehalten, als er es dann tatsächlich war“, musste Bsirske einräumen. Er muss jetzt einen Arbeitskampf weiterführen, an den er nicht glaubt.

1,5 Millionen Streiktage

Am kommenden Wochenende, wenn Verdi sich zu seinem großen Bundeskongress trifft, wird Bsirske sich den Mitgliedern wieder stellen müssen.

Die zweitgrößte Gewerkschaft der Republik hat in diesem Jahr so viel gestreikt wie lange nicht mehr. Von insgesamt 1,5 Millionen Streiktagen spricht Verdi. „Ob Post oder Kindergärten, Einzelhandel oder öffentlicher Dienst, Amazon, Toys „R“ Us oder Berliner Charité – im Reich des Frank Bsirske geht die Streiksonne nie unter“, spöttelte die Welt am Sonntag. Tatsächlich finden neun von zehn Arbeitskämpfen heute im Dienstleistungsbereich statt.

Die Ausstände bei der Charité oder der Postbank führten immerhin zu Ergebnissen, mit denen die meisten Beschäftigten zufrieden waren. Auch im öffentlichen Dienst und im Sicherheitsgewerbe wurden ansehnliche Abschlüsse erreicht.

Ausgerechnet beim viel beachteten Poststreik sah das anders aus. „Das Ergebnis ist für Verdi ein Desaster“, sagt Hagen Lesch. „Für das Ergebnis hätte man nicht vier Wochen streiken müssen.“

Zu hohe Erwartungen

Lesch ist Leiter des „Kompetenzfelds Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen“ des Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Für das arbeitgeberfinanzierte Institut verfolgt der Volkswirtschaftler die Entwicklung von Verdi seit Jahren ganz genau. Es ist eine Art Feindbeobachtung. „Das Grundproblem ist das Erwartungsmanagement der Verdi-Führung“, sagt Lesch. Bei den Kitas und der Post, bei beiden Streiks seien zu hohe Erwartungen geweckt worden.

Vier Minuten Fußweg vom Hauptbahnhof entfernt befindet sich die Dortmunder Verdi-Filiale. In dem grauen Hochhaus trifft sich Ende August das „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di und die ver.di-Linken NRW. Etwa 50 Leute diskutieren von 11 bis 16 Uhr, was in ihrer Gewerkschaft so alles schiefläuft. Einer von ihnen ist Helmut Born. Er ist freigestellter Betriebsratsvorsitzender des Düsseldorfer Kaufhofs und mit 63 Jahren im gleichen Alter wie Verdi-Chef Bsirske. „Die Verdi-Führung ist strategisch unfähig“, lautet sein vernichtendes Urteil. Auch wegen des Poststreiks.

Nichts erreicht

Vom 11. Juni bis zum 6. Juli hatten die Postbeschäftigten gestreikt – ihr erster unbefristeter Ausstand seit mehr als 20 Jahren. Sie wehrten sich dagegen, dass die Paketzustellung in deutlich schlechter zahlende Tochtergesellschaften ausgesourct werden soll, in die DHL Delivery GmbHs. Die ausgelagerten Beschäftigten sollten unters Dach des Haustarifvertrags zurück. Man gab sich zunächst zuversichtlich.

Man erreichte allerdings: nichts. Es sei leider „nicht gelungen, die Deutsche Post AG von einer Rücknahme der DHL Delivery GmbHs zu überzeugen“, musste Verdi mitteilen.

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Warum gaben sie so schnell auf? Weil das Postmanagement durchblicken ließ, sogar Streikschäden im Volumen eines Jahresgewinns hinzunehmen?

Helmut Born spricht von einer „Bankrotterklärung der Gewerkschaftsführung“. Maßlos ärgert ihn, dass die betroffenen Postmitarbeiter nicht beteiligt worden waren. Keine Urabstimmung vor Beginn des Streiks, keine Streikdelegiertenversammlungen, keine Befragung über den ausgehandelten Abschluss nachher. Born ist überzeugt: Das ablehnende Votum wäre noch eindeutiger ausgefallen als im Sozial- und Erziehungsdienst.

Die ganze Republik lahmlegen?

Als sich Verdi 2001 aus verschiedenen Gewerkschaften, wie der für die Post oder der IG Medien zusammenschloss, hätten die hauptamtlichen Funktionäre für die Fusion geworben, erinnert sich Born, der selbst aus der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen stammt. „Wir können mit Verdi die ganze Republik stilllegen“, habe es auf der Auflösungsversammlung der HBV geheißen. Straßenbahnfahrerinnen, Verkäufer, Müllentsorger, Verwaltungsangestellte und Krankenschwestern hätten eine gewaltige Macht – wenn sie zusammen an einem Strang ziehen und streiken. „Aber das hat nie Verdi nie gemacht“, sagt Born.

Bei Amazon versucht Verdi vergeblich, mit temporären Streiks den Onlineversandhändler zum Abschluss eines Tarifvertrags zu bringen. „Dieser Kampf hat die Solidarität der gesamten Organisation“, behauptet zwar Bsirske nach wie vor. Nur führt die erst mal zu nichts.

Mitte August scheiterte Verdi dann mit einer Petition zu den Arbeitsbedingungen bei der US-Tochter der Deutschen Telekom. 50.000 Unterstützer hätte es bedurft, um den Petitionsausschuss des Bundestags dazu zu bringen, sich mit der gewerkschaftsfeindlichen Politik von T-Mobile US zu befassen. Es kamen nicht einmal 45.000 zusammen – bei rund 2 Millionen Verdi-Mitgliedern.

Komplizierte Organisationsstruktur

Mit der neuen Organisation verband sich 2001 die Hoffnung, die Erosion der Einzelgewerkschaften stoppen zu können, die sich in einer finanziellen Krise befanden. Herausgekommen ist ein kompliziertes Konstrukt: Rund tausend Berufe – von der Friseurin über den Autovermieter, die Bankangestellte und den Friedhofsgärtner bis zur Komponistin – organisiert Verdi, unterteilt in dreizehn Fachbereiche.

Die interne Organisationsstruktur, im Verdi-Jargon Matrix genannt, ist so kompliziert, dass selbst Hauptamtliche sie nur mit Mühe erklären können. Bei ihrer Gründung hatte Verdi noch 2,9 Millionen Mitglieder und bezeichnete sich stolz als die größte Gewerkschaft Europas. Das ist inzwischen die IG Metall.

Mehr als 800.000 Mitglieder gingen mit den Jahren verloren. Die Folgen sind Personalabbau, Einschränkungen bei den Publikationen oder der Infrastruktur, beispielsweise durch die im Mai beschlossene Schließung der gewerkschaftlichen Bildungsstätte in Lage-Hörste.

Streiken gegen Bedeutungsverlust

Immerhin sieht IW-Gewerkschaftsexperte Hagen Lesch mittlerweile bei der Mitgliederentwicklung gewisse „Stabilisierungstendenzen“. Aber da die Zahl der Beschäftigten auch in den Verdi-Branchen in Deutschland zunimmt, „müsste die Mitgliederzahl eigentlich wachsen“, sagt Lesch. Könnte es sein, dass Verdi gegen seinen Bedeutungsverlust anstreikt?

In der Gewerkschaft sei alles auf Rekrutierung ausgerichtet, hat Helmut Born beobachtet. Vielerorts gebe es nur noch Geld für Projekte, die der Mitgliedergewinnung dienen. „Die Verdi-Führung will unbedingt verhindern, dass die Mitgliederzahl zum Bundeskongress unter die 2-Millionen-Grenze rutscht“, sagt er.

Der Verdi-Bundeskongress findet alle vier Jahre statt. Das Motto diesmal: „Stärke. Vielfalt. Zukunft“. Vom 20. bis zum 26. September 2015 werden sich etwa 1.000 Delegierte in der Leipziger Messe versammeln, um mehr als 1.340 Anträge aus 20 Sachgebieten zu beraten – ein Papierberg, der ausgedruckt mehrere Kilo schwer ist.

Ärger der Verdi-Angestellten

Aus Mainz wird Bernhard Stracke zum Bundeskongress reisen. Dort wird der Mainzer Gewerkschaftssekretär vor der Halle einen Infostand aufbauen. Der Mann mit der randlosen Brille ist Vorsitzender der kleinen Gewerkschaft der Gewerkschaftsbeschäftigten.

Rund 3.500 Beschäftigte sind bei Verdi angestellt. Einen Tarifvertrag gibt es nicht, die Details für die Beschäftigten sind nur in einer Betriebsvereinbarung geregelt. Das ärgert Stracke. „Verdi will, dass Amazon, Kirchen und Parteien Tarifverträge für die Beschäftigten abschließen“, sagt er. „Aber selbst will Verdi das nicht.“ Beim Bundeskongress will Stracke deshalb eine Satzungsänderung beschließen lassen, die das ändert.

Wie üblich wird die Antragskommission allerdings eine Empfehlung zu jedem Antrag abgeben: Geht der Daumen runter, stimmen die Delegierten in der Regel dagegen. So wird es wohl auch Strackes Satzungsänderung ergehen.

Kein Interviewtermin

Eine Grundsatzdiskussion über solche und andere Probleme steht nicht auf dem Programm. Einige Brisanz birgt der Antrag, die Gremienwahlen nur noch alle fünf Jahre stattfinden zu lassen. „Dann würde das noch undemokratischer“, befürchtet Born, der Düsseldorfer Betriebsratsvorsitzende, der als Delegierter in Leipzig mit dabei sein wird. Eine echte demokratische Streitkultur gebe es lange nicht mehr. Die Leute seien demoralisiert, resigniert.

Wie das alles wohl Verdi-Chef Bsirke sieht? Mehrere Monate bemühte sich die taz um ein Interview. „Ich habe nach wie vor keinen Terminvorschlag“, teilte der Leiter der Verdi-Pressestelle am 1. September mit.

Gewählt wird in Leipzig auch noch. Für den Vorsitz kandidiert der, der dafür schon immer kandidiert hat: Frank Bsirske. Noch nie hatte Verdi einen anderen Vorsitzenden. Ein Wahlergebnis unter 90 Prozent gilt trotz allem unwahrscheinlich. Es wäre Bsirskes fünfte Amtszeit.

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