Wrestling-Welt im Umbruch: Catchen mit Gefühlen

Wrestling mal ganz anders: Die aufstrebende Liga AEW probiert beim Storytelling Neues aus. Es geht um Freundschaft – und um soziale Missstände.

Ein Wrestler im Ring

Gewalt und Geschichte: AEW-Kampf im April in Florida Foto: MediaPunch/picture alliance

Es ist eine der größten Wrestling-Shows aller Zeiten und im Hauptkampf stehen sich zwei Freunde gegenüber: Maxwell Jacob Friedman und Herausforderer Adam Cole. In den Wochen zuvor sind viele Hinweise gestreut worden, dass einer der beiden sich als Verräter entpuppen und durch eine unfaire Attacke den Kampf gewinnen würde. Die meisten Freundschaften, die im Wrestling erzählt werden, enden so. Doch der große „Finishing Move“ an diesem Abend ist kein Schlag. Stattdessen fallen sich MJF und Cole in die Arme. Während Feuerwerk explodiert, feiern über 80.000 Fans die Freundschaft. So endete „All In London“, die erste Show auf europäischem Boden von All Elite Wrestling (AEW). Dass eine andere Liga als der Marktführer World Wrestling Entertainment (WWE) so viele Menschen versammelt, wäre lange Zeit undenkbar gewesen.

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Fast zwei Dekaden lang gab es keine Alternative zur WWE, aber viele gute Gründe dafür, ihr kritisch gegenüberzustehen. Das Unternehmen arbeitet mit dem Kronprinzen Saudi-Arabiens zusammen, unterstützt durch Veranstaltungen in der Monarchie dessen Sportswashing-Kampagne. Außerdem gibt es jährliche Entlassungswellen und das trotz Rekordumsätzen.

Synonym mit den Problemen der WWE ist für viele Fans der 78-jährige Vorsitzende Vince McMahon, der das Ruder seit 40 Jahren nicht aus der Hand geben will. 2022 musste er zurücktreten, nachdem Schweigegeldzahlungen öffentlich geworden waren, durch die er mutmaßlich sexuelle Beziehungen mit Angestellten vertuscht hatte. Nur wenige Monate später, als der Druck der Aktionäre nachgelassen hatte, kehrte McMahon an seinen Posten zurück. Zu hoffen, dass das Unternehmen sich selbstständig erneuert, wäre optimistisch.

Moralstücke in Kampfsport-Gewand

Auch AEW wird von einem reichen Unterhaltungsmagnaten geführt. Den Weg geebnet hatte aber eine Gruppe von Wrestlern namens „The Elite“. Obwohl sie nicht im Fernsehen, sondern bei kleineren US-Ligen und in Japan auftrat, hatte sich die Gruppe über Social Media eine große Gefolgschaft aufgebaut und 2018 bereits eine eigene Show namens „All In“ veranstaltet.

Tony Khan, selbst ein großer Wrestling-Fan, nahm das wahr und stieg als Geldgeber ein. Er brachte das Projekt zu den Fernsehanstalten. In Deutschland wird die wöchentliche Show „Dynamite“ mittlerweile von DMAX übertragen. Dass es ein alternatives Fernsehprodukt gibt, hat das Wrestling-Geschäft belebt – auch kreativ. Denn nicht zuletzt bedeutete die Markthoheit von WWE lange eine Einförmigkeit der Wrestingstile und -erzählungen.

Denn Wrestling-Matches sind Moralstücke in Kampfsport-Gewand. Wrestler spielen „Babyfaces“ und „Heels“, wie man im Jargon sagt, also Figuren mit guter oder böser Gesinnung. Den Guten soll das Publikum zujubeln, die Bösen soll es ausbuhen. Da dieses Prinzip einigermaßen simpel ist, waren auch die Figuren in den Shows oftmals stereotyp und mitunter problematisch. WWE ließ etwa 2004 während des Irakkriegs einen arabisch-amerikanischen Charakter namens Muhammad Hassan auftreten, der zunehmend wie ein Al-Qaida-Mitglied inszeniert wurde. 2014 lief der bulgarische Wrestler Rusev mit einer russische Flaggen schwenkenden Militärparade und einem Bild Putins ein.

Hassan und Rusev waren Schurkencharaktere. Ihre provokative Inszenierung diente allein dazu, das Publikum gegen sie aufzubringen. Dann eilte ein US-amerikanischer Held zur Rettung. So komplex wie der aktuelle Träger von AEWs World-Champion-Titel Maxwell Jacob Friedman ist dagegen keine der WWE-Figuren. Auch Friedman, besser bekannt unter dem Akronym MJF, war den Großteil seiner Laufbahn über ein „Heel“. Dennoch ist es ihm gelungen, reale Antisemitismuserfahrungen zu thematisieren und in seine Geschichte zu integrieren.

Weinen und hassen

MJFs Figur ist die eines überheblichen Schnösels mit Burberry-Schal. Das Publikum bezeichnet er gerne generalisierend als arm und abstoßend. MJF wurde immer verlässlich ausgebuht – bis zum Februar 2022. Da spricht er in einem der beeindruckendsten Segmente der AEW-Geschichte von Mobbingerfahrungen als Jugendlicher, davon, ein Außenseiter gewesen zu sein, mit ADHS und Lernschwächen. Schließlich berichtet er, er sei von Mitschülern mit Münzen beworfen und dabei antisemitisch beleidigt worden. Währenddessen weint er.

Wie jede Rede in einem Wrestling-Ring hat auch diese den Zweck, einen Kampf zu bewerben: MJF verwebt die Ausführungen mit seiner Rivalität mit dem Wrestler CM Punk. Mit diesem Segment wurde endgültig klar: MJF mag schlimmstes Wrestling-Bösewicht-Verhalten an den Tag legen, aber er hat den Hass internalisiert, den er selbst erfuhr. Durch die starke Rede kann er die Reaktionen des Publikums für kurze Zeit drehen.

„Der Hass wird dich nicht warmhalten. Der Hass wird dich verbrennen“, appelliert CM Punk eine Woche später an MJFs guten Kern. Aber der ist noch nicht bereit, sich zu ändern. Punk erntet einen Tiefschlag, die „Babyface“-Fassade fällt wieder.

Seit diesen Segmenten wird MJF in Interviews häufig auf seine jüdische Identität angesprochen und hat auch von Antisemitismuserfahrungen während seiner Wrestling-Karriere berichtet, etwa von Beschimpfungen und einem Hakenkreuz, das jemand auf seine Sporttasche geschmiert habe. Das zeigt: Einen jüdischen Weltmeister zu präsentieren, ist ein wichtiger Schritt fürs Wrestling. MJF ist nicht der erste jüdische Wrestler, aber er ist der erste, der es so explizit in den Shows thematisiert.

Lass uns Freunde bleiben

Inzwischen ist MJF tatsächlich einer von den Guten in der Erzählung. Es war keine drastische Kehrtwende, wie die meisten „Turns“ im Wrestling. Die Wandlung geschah dadurch, dass er einen Freund fand – nach eigener Aussage den ersten seines Lebens – und lernte, sich zu öffnen.

Dieser Freund ist der Wrestler Adam Cole und dies ist die Geschichte, die zu der großen Umarmung im Londoner Wembley Stadium geführt hat, wo die beiden gegeneinander im Ring standen. Viele Fans erwarteten wieder einen Tiefschlag, so wie gegen CM Punk, und dass MJFs Öffnung nur Kalkül und Manipulation war. Schließlich muss jede Wrestling-Geschichte Kämpfe bewerben. Aber die scheinbar simpelste Lösung – Freunde bleiben – war für die Fans an diesem Abend nicht nur die überraschendste, sondern auch die mitreißendste.

Ist Wrestling ein geeignetes Medium, um von Anitsmitismus zu erzählen?

Kurz vor Erscheinen dieses Texts fand bei All Elite Wrestling ein kontroverses Segment statt. Ein Gegenspieler MJFs präsentierte eine Münzrolle mit der Aufschrift „Friedman“ und reproduzierte somit den Antisemitismus, von dem der Champion berichtet hatte. Es war das erste Mal, dass Antisemitismus nicht nur besprochen, sondern dargestellt wurde. Wie üblich war die Aktion natürlich hinter den Kulissen abgesprochen, mutmaßlich sogar MJFs Idee. Aber unter den Zuschauenden herrscht Skepsis, gerade aufgrund des Zeitpunkts: Ist Wrestling ein geeignetes Medium, um derartige Geschichten zu erzählen?

Der Zweifel rührt nicht nur daher, dass Wrestling weniger Prestige genießt als Filme und Literatur, sondern vor allem auch, dass Wrestling historisch keine gute Erfolgsbilanz im Umgang mit anspruchsvollen Themen hat. Allerdings: Der Wrestler, der Muhammad Hassan spielte, war nicht einmal Muslim. MJF dagegen erzählt seine eigene Geschichte, so wie es viele Künstler tun, um zu verarbeiten und um Aufmerksamkeit zu schaffen, und seine Kunstform ist nun einmal Wrestling, nicht die Literatur.

All Elite Wrestling hat bereits gezeigt, dass mehr Komplexität und Feingefühl möglich ist, als es die Kunstform zumeist vorgelebt hat. MJF ist nicht das einzige Beispiel. Ebenso könnte man sich den „ängstlichen Cowboy“ Adam Page ansehen, der weniger selbstbewusst daherkam, als es für die Helden des Wrestling Tradition ist. Er musste auf seinem Weg an die Spitze erst seine Selbstzweifel besiegen.

Fans haben über ihn mehrstündige Youtube-Essays produziert, um alle erzählerischen Details wertzuschätzen. Als Wrestler Jon Moxley letztes Jahr von einem Alkoholentzug zurückkehrte, durfte er das auf selbstbewusste und inspirierende Weise on air vor Publikum thematisieren. Nach den plötzlichen Toden der Wrestler Brodie Lee und Jay Briscoe warf Tony Khan jeweils den Plan für die nächste Sendung in den Papierkorb und produzierte stattdessen Gedenkveranstaltungen. Auch das gehört zum Feingefühl des Unternehmens. Im Konkurrenzkampf der Wrestling-Ligen ist AEW das „Babyface“.

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