Zwischenbilanz Filmfestival Cannes: Die Willkür eines Papstes

Wes Anderson geht auf Tuchfühlung mit Aliens, Marco Bellocchio stellt sich in den Dienst der Geschichte. Viele Künstler:innen zeigen Routine.

Fünf Geistliche halten ein Kind

Fromme Inszenierung in Marco Bellocchios Historienfilm „Rapito“ Foto: Kavac Film/IBCmovie

Die Hysterie des Festivalbetriebs ist fast vorüber, da lässt sich etwas Zwischenbilanz ziehen, wie die Chancen in diesem Jahrgang von Cannes wohl stehen. Mit Jonathan Glazers pechschwarzem Holocaustfilm „The Zone of Interest“ und Nuri Bilge Ceylans poetischem „About Dry Grasses“ gab es schon früh zwei herausragende Filme im Wettbewerb, ebenso Justine Triets psychologisch genaues Justizdrama „Anatomie d’une chute“.

Der US-amerikanische Regisseur Todd Haynes, der zuletzt mit so unterschiedlichen Arbeiten wie dem Dokumentarfilm „The Velvet Underground“ und dem Drama „Vergiftete Wahrheit“ über den Teflon-Chemieskandal auf sich aufmerksam machte, hat mit „May December“ eine erfreulich verwirrende Komödie beigesteuert, die auf einnehmende Weise fremdartig ist.

Julianne Moore spielt darin eine Frau, Gracie, die einen deutlich jüngeren Mann, Joe, geheiratet hat und die, weil ihr späterer Ehepartner zu Beginn der Beziehung noch minderjährig war, vorübergehend als Sexualstraftäterin im Gefängnis saß. Jetzt soll die Geschichte verfilmt werden, und die Schauspielerin Elizabeth Berry (Natalie Portman) übernimmt den Part von Gracie. Zur Vorbereitung auf ihre Rolle verbringt Elizabeth Zeit mit der Familie. Man kommt sich mitunter näher.

Todd Haynes inszeniert die seltsame Geschichte in milchigem Licht, mit schwülstig-dramatischer elektronischer Musik unterlegt, alle Figuren sind überzeichnet, immer wieder werden Julianne Moore und Natalie Portman so ins Bild gesetzt, dass sie einander mehr und mehr gleichen. So ganz versteht man nicht, was Haynes eigentlich erzählt, doch er tut es so charmant, dass man sich nicht seiner Zeit beraubt fühlt.

Leider ist das bei anderen Filmen schon der Fall. Bisheriger Tiefpunkt des Wettbewerbs war das Notfallmedizineractiondebakel „Black Flies“ von Jean-Stéphane Sauvaire mit Sean Penn und Tye Sheridan in den Hauptrollen beim blutigen Einsatz als Sanitäter. Nach einem durchschnittlichen Beitrag von Aki Kaurismäki („Fallen Leaves“) und der platten Satire „Club Zero“ von Jessica Hausner hat auch der US-amerikanische Regisseur Wes Anderson mit „Asteroid City“ mehr Routine denn ansteckende Leidenschaft in statisch-bewegte Bilder gebannt.

Stars in Mannschaftsstärke

„Asteroid City“ ist ein Film über ein Thea­ter­stück gleichen Namens, mit der fiktiven Stadt des Titels als Ort der Handlung. Wie zuvor in „The French Dispatch“ hat Anderson fast zwei Fußballmannschaften voll von Stars zusammengebracht, die buchstäblich in der Wüste stranden, trockene Bemerkungen über verstorbene Familienmitglieder machen und die Schönheit des Kraters bewundern, dem der Ort seinen Namen verdankt. Auch ­Aliens interessieren sich für diese urzeitliche Formation.

Anderson nutzt die bei ihm üblichen tableauartigen Szenerien, in denen seine Schauspieler mehr stehen als agieren und als witzig konzipierte Dinge von sich geben. Doch der forcierte Wille zum Absurden läuft bei ihm häufig auf leere Gesten hinaus. Dass sogar ernste Dinge wie Trauer zur Sprache kommen, geht darüber etwas unter. Nicht, weil man es nicht bemerken würde, sondern weil es wie deplatziert im Raum stehen bleibt.

Ein klareres Anliegen verfolgt der italienische Regisseur Marco Bellocchio in seinem ebenfalls im Wettbewerb gezeigten Historienfilm „Rapito“. Darin erzählt er die Geschichte von Edgardo Mortara, der 1858 als sechsjähriges Kind von der päpstlichen Polizei aus seinem Elternhaus entführt wurde. Ein Hausmädchen hatte ihn notgetauft, weshalb er nicht mehr von seiner jüdischen Familie erzogen werden durfte.

Der Kampf der Juden blieb erfolglos

Bellocchio erzählt diesen haarsträubenden Fall, der seinerzeit international Proteste hervorrief und in dem die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Österreichs zu intervenieren versuchten, gewohnt klassisch, zeigt die Not der Eltern Momolo Mortara (Fausto Russo Alesi) und seiner Frau Marianna Padovani (Barbara Ronchi), die verzweifelt versuchen, ihr Kind zurückzubekommen.

Doch da Juden nach Kirchenstrafrecht keine getauften Kinder erziehen durften, blieb ihr Kampf erfolglos. Von der päpstlichen Einübung Edgardos ins Christentum schneidet Bellocchio regelmäßig zur Familie Mortara beim Tischgebet, führt hie lateinische und da hebräische Formeln parallel, um die Willkür dieser Praxis unter Pius IX. hervorzuheben. Man mag das konventionell finden, man könnte auch sagen: Bellocchio stellt sich in den Dienst der Geschichte.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.