Zwischenstopp in Charleroi: Ich bin auch kein anderer

Ein paar Stunden in der belgischen Ex-Industriemetropole Charleroi genügen unserem Autor, um festzustellen: Er will so schnell wie möglich weg.

Triste Straßenabzweigungen und Straßenschilder in der Stadt Charleroi

Froh wieder auf auf dem Rückweg nach Hause zu sein – nach einem Besuch in der Stadt Charleroi Foto: Martin Bertrand/imago

Frühmorgens machten wir uns austernsatt auf die Rückreise nach Berlin, über den weißen Türmen von La Rochelle lag dramatisch Morgenrot. Zehn Stunden später rollten wir über bröckelnde Viadukte in unserer günstig gelegenen Zwischenstation Charleroi ein.

Über die einst wohlhabende, heute schon mal als hässlichste Stadt der Welt gebrandmarkte Metropole des frankofonen Belgiens hat unser toller Benelux-Korrespondenten Tobias Müller 2017 in der taz geschrieben: „Es gibt Besucher, die nach einem Tag in Charleroi geradezu wohlig die Rückreise antreten, an irgendeinen Ort, an dem ihnen das Erbe der Industrialisierung weniger rabiat ins Gesicht springt.“

Und wenn es mir auch nicht gefällt und meine Freundin sich seitdem über mich lustig macht: Ich gehöre insofern zu dieser Gruppe als ich schon nach ein paar Stunden genug hatte.

Noch nie habe ich mich an einem Ort so unwohl gefühlt wie in Charleroi. Noch nie hab ich am Abend in einer fremden Stadt, die doch zu erkunden wäre, so nachhaltig hysterisch darauf gedrängt, schnellstmöglich das sichere Quartier aufzusuchen, die sehr empfehlenswerte Jugendherberge am Quai Arthur Rimbaud. Und noch nie war ich erleichterter, einen Ort hinter mir zulassen, als bei der endlich geglückten Ausfahrt aus dem stinkenden und auch sonst apokalyptischen Parkhaus Q-Park Inno Centre Ville.

„Die verhaften hier gerade jemanden“

Nun kann ich mir einreden, ich sei eben nicht allein unterwegs gewesen und könnte meinen Vater zitieren, der zu sagen pflegte: „Ich war immer liberal – bis ich Kinder bekam.“ Als ich allerdings mitten auf der beeindruckend deprimierenden Place Vert schrecklich deutsch und laut meine Tochter anschrie, sie solle endlich herkommen, sagte die nur: „Gleich Papa, die verhaften hier gerade jemanden, das will ich sehen.“

Charleroi hat etwas in mir angesprochen, mit dem ich mich sonst nicht so gerne unterhalte: Meine kleinbürgerliche Angst vor der Unordnung, meine ästhetische Abscheu vor Verfall und Verwahrlosung, meine kindliche Hilflosigkeit angesichts eines Szenarios, dessen Regeln ich nicht kenne und auch gar nicht kennenlernen will.

Kurz: Mein Charleroi, in dem ich mich nur lächerliche 14 Stunden aufhielt und das, wie ich inzwischen nicht nur beim Kollegen Müller gelernt habe, sich längst zum postindustriell-touristischen Hipsterziel zu entwickeln verspricht, war keine reale Stadt mit ihrer konkreten, glorreichen und tragischen Geschichte (Stichwort: „Deindustrialisierung“), ihren vorhandenen Verlockungen und den keineswegs in Abrede zu stellenden Gefahren.

Charleroi war mein Albtraum, meine Projektionsfläche, war, wenn man so will, mein Neukölln – mit dem entscheidenden Unterschied, dass ich in Neukölln 20 Jahre zu Hause war. In Charleroi war ich eben, um mit dem zeitweiligen Charleroier Arthur Rimbaud zu sprechen, „Je est un autre“, auch kein anderer als all die anderen, die derzeit neurotische Ängste haben, mit ihren hausieren gehen und sich politisch vor- und verführen lassen. Wenn ich mich von ihnen unterscheide, dann einzig darin: Mich interessieren meine Ängste. Ich stelle sie infrage, denn ich möchte ihnen nicht auf Dauer unterworfen sein.

Deswegen will ich so bald wie möglich wieder nach Charleroi. Denn dieser Ort stellt mir Fragen, auf die ich Antworten brauche, insbesondere die, ob Charleroi unsere Vergangenheit ist – oder unsere Zukunft.

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Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

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