S-Bahn-Chaos im Parlament: Lahme S-Bahn bringt Wahlkampf in Fahrt

Die Fraktionen debattieren über das S-Bahn-Chaos. Die SPD fordert mehr Entschädigungen, Linke verprügeln die Privatisierer, die CDU gibt den Volkstribun - und alle loben die duldsamen Berliner.

Sichtlich genervt: Verkehrssenatorin Junge-Reyer und Klaus Wowereit Bild: dpa

Es ist das Unwort dieses Nachmittags im Plenarsaal: Wahlkampf. Nein, so ist es mehrfach zu hören, mit der Bundestagswahl am 27. September soll es nichts zu tun haben, was man sich hier im Abgeordnetenhaus zur S-Bahn an den Kopf wirft. Es geht ja schließlich um die unverdrossenen Berliner, die nach übereinstimmender Meinung so tapfer das Chaos ertragen - wofür es fraktionsübergreifend kostenlose Dankesworte gibt. Auf deren Rücken um Stimmen zu werben, so der Eindruck, gilt als unlauter. Man könnte meinen, die vielen Wahlplakate in der Stadt müssten sofort als anstößig abgehangen werden.

Doch wenn es gar nicht um Wahlkampf geht - wieso steht dann für die oppositionelle CDU Frank Steffel am Mikro, der am 27. September in den Bundestag gewählt werden will? "Der ist doch noch nie S-Bahn gefahren", ruft jemand in den Saal, als Steffel statt des verkehrspolitischen Sprechers seiner Fraktion ans Rednerpult geht. Steffel wirft mit Dank um sich wie ein Preisträger bei der Oscar-Verleihung - dankt für Engagement und Leidensfähigkeit den Beschäftigten der Verkehrsbetriebe, den Taxifahrern, "den Berlinerinnen und Berlinern". Die Linkspartei-Abgeordnete Jutta Matuschek liegt nicht falsch, als sie sich dadurch an Ex-CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky erinnert fühlt, der gern den Arbeiterführer gab.

Als sie selbst mit ihrer Rede dran ist, steht Matuschek beim Stimmenwerben nicht zurück. Sie sieht ihren Koalitionspartner SPD im Bundestag nicht minder als CDU, Grüne und FDP für Privatisierungsbestrebungen bei der Deutschen Bahn, deren Tochter die S-Bahn Berlin ist, verantwortlich. Auch Grünen-Fraktionschefin Franziska Eichstädt-Bohlig kritisiert nicht allein den Senat für das S-Bahn-Chaos, sondern attackiert auch die Bundes-Größen von CDU und SPD. Und mit Blick auf den 27. September verabschiedet der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) in einem Wortgeplänkel den FDP-Mann Martin Lindner vom Preußischen Landtag in den Reichstag. "Dann sehen wir uns ja wieder", kontert der und spielt damit auf Wowereits vermeintliche bundespolitische Ambitionen an.

Der bisher bestenfalls laue, eher dröge Bundestagswahlkampf ist an diesem Donnerstag in Fahrt gekommen - ausgerechnet durch die stehen gebliebenen Züge der S-Bahn. Alle drei Oppositionsfraktionen verlangen die Entlassung von Verkehrssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Die Grünen werfen ihr nicht bloß Missmanagement vor, sondern machen sie auch für den viel kritisierten Vertrag mit der S-Bahn von 2003 verantwortlich. Dumm bloß, dass Junge-Reyer damals noch als Staatssekretärin für Stadtentwicklung arbeitete und der zuständige Senator der offenbar schon vergessene langjährige SPD-Chef Peter Strieder war.

Diese inhaltliche Entgleisung greifen die unter Druck geratenen Sozialdemokraten natürlich dankend auf. "Das ist schon nicht mehr lächerlich, sondern peinlich, was sie hier aufführen", ruft SPD-Verkehrsexperte Christian Gaebler der grünen Fraktionschefin Eichstädt-Bohlig zu. Der hat sich zuvor schon warm geredet, als er die Grünen für ihre Forderungen nach einer Ausschreibung abstraft: "Ihre Wettbewerbsgläubigkeit ist schon FDP-würdig", so Gaebler, "Sie sind die Öko-FDP."

Über den Schlagabtausch mit der Opposition hinaus verschärft die SPD ihren Kurs gegenüber der Deutschen Bahn und der Berliner S-Bahn GmbH. Binnen 14 Tagen soll nach Willen der SPD-Fraktion klar sein, wie die Entschädigung der Fahrgäste abläuft. Nicht nur Abo-Kunden, sondern auch Monatskarteninhaber sollen davon profitieren.

Nach SPD-Wunsch soll zudem der Aufsichtsratsvorsitzende der S-Bahn zurücktreten; die Linkspartei will einen Vertreter des Landes Berlin in dem Kontrollgremium sehen. Der aktuelle Aufsichtsratschef heißt Hermann Graf von der Schulenburg - ein Namensvetter hatte 1806 als Stadtkommandant den Berlinern angesichts der anrückenden Franzosen dekretiert: "Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht." Was den Wahlkampf angeht, ist es mit der Ruhe seit diesem Nachmittag vorbei.

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