Roman über Coronakrise: Sommernachtstraum mit Pandemie

In Gary Shteyngarts Roman „Landpartie“ schart ein Schriftsteller auf seinem Landsitz während des Lockdowns eine Gruppe von Freunden um sich.

Ein rotes Haus auf dem Land.

Ein guter Ort, um die Seuche auszusitzen? Foto: John Greim/LightRocket/getty images

Eine Konstellation ähnlich wie in Boccaccios „Decamerone“ entwirft Gary Shteyngart in seinem neuen Roman: In ländlicher Abgeschiedenheit sitzt eine Gruppe gutsituierter Menschen eine Seuchensituation aus, nur handelt es sich bei der Seuche in diesem Fall nicht um die Pest, sondern um Covid-19.

Außerdem werden bei Shteyngart keine Geschichten erzählt. Stattdessen wird gelabert, getafelt und gevögelt. Und damit wäre fast schon alles gespoilert, was in diesem Roman passiert, denn eine Handlung im herkömmlichen Sinne hat er nicht, und eine Entwicklung ergibt sich vornehmlich aus der Beziehungsdynamik zwischen den Personen.

Im Zentrum des Romans steht eine Figur, in der Gary Shteyngart eine Karikatur seiner selbst mit verschiedenen Charakterklischees aus der russischen Literatur des vorletzten Jahrhunderts gekreuzt hat: ein Schriftsteller mit wenig Talent fürs praktische Leben, der meist im Hausrock umherläuft, einen etwas verwahrlosten Eindruck macht und viel Geld ausgibt, ohne es im selben Maße einzunehmen.

Dieser Sasha Senderovsky besitzt ein feriendorf­ähnliches Anwesen an der US-Ostküste, in das er eine erlesene Handvoll Personen für die Zeit des Lockdowns eingeladen hat. Seine drei besten KindheitsfreundInnen gehören dazu, ferner eine seiner ehemaligen Studentinnen, die es inzwischen als Essayistin zu einiger Prominenz gebracht hat, und ein berühmter Schauspieler, von dem Sascha hofft, dass er sein neuestes Drehbuch verfilmt. Masha, Senderovskys Gattin, und die gemeinsame adoptierte Tochter Natasha, genannt Nat (das achtjährige, chinesischstämmige Kind ist tendenziell genderfluid), komplettieren den Cast.

Gary Shteyngart: „Landpartie“.

Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Penguin Verlag, München 2022, 480 Seiten, 25 Euro

Das zentrale Motiv des Romans besteht in einem ausgiebigen „Wer mit wem?“, angefangen damit, dass die kleine Nat, leidenschaftlicher K-Pop-Fan, sich überraschend eng an Senderovskys koreanischstämmige alte Freundin Karen anschließt, die selbst weder Kinder noch eine Beziehung hat, ihrerseits aber schon seit Jahrzehnten begehrt wird vom gemeinsamen (indischstämmigen) Freund Vinod.

Karen ist reich geworden mit der Entwicklung einer App, die als digitales Pendant eines Liebestranks fungiert. Test- und unterhaltungshalber probiert die Gesellschaft die App am berühmten Schauspieler und der gutaussehenden jungen Essayistin aus, was den Schauspieler gänzlich liebeskrank zurücklässt und Ed, den Dritten der Kindheitsfreunde, krank vor Eifersucht macht. Während die Essayistin den Schauspieler noch hinhält, kann wiederum Senderovskys von der Ehe frustrierte Gattin sich für die Triebabfuhr des Schauspielers nützlich machen.

Insgesamt scheint das Treiben in seinen Konstellationen sehr vom „Sommernachtstraum“ inspiriert, ist aber in seiner Geheimnislosigkeit, mit der alles, aber auch alles ausagiert und ausgesprochen wird, einige Galaxien weit entfernt von Shakespeare – und noch ein gutes Stück weiter weg von Tschechows „Onkel Wanja“, aus dem nicht nur ausführlich zitiert, sondern der zu guter Letzt sogar szenisch aufgeführt wird.

Dieses beziehungsreiche Spiel mit übergroßen literarischen Vorbildern ist allerdings trotz, oder vielleicht auch wegen, seiner offensiven Dreistigkeit nicht ganz ohne Reiz. Und unter dem ganzen Gerammel und Gerede liegen auch noch deutlich existenziellere Themen. Aus der Ferne dringen Splitter der harschen Wirklichkeit in die ländliche Idylle. Die Zeit der Handlung umfasst Frühjahr und Sommer 2020. Während die Pandemie insgesamt eher wenig thematisiert wird, läuft nach dem Mord an George Floyd eine spürbare Schockwelle durch die kleine Gemeinschaft.

Die Zumutungen der Gesellschaft

Generell fühlen sich fast alle SommerfrischlerInnen ethnischen Minderheiten zugehörig und von den vermeintlich rassistischen Nachbarn in der ländlichen Umgebung latent bedroht. Der Aufenthalt im künstlichen Feriendorf scheint auch ein Refugium vor den Zumutungen der Gesellschaft an sich zu sein – und vor der Politik.

Weder der damals amtierende amerikanische noch der ewige russische Präsident werden beim Namen genannt, doch die Erzählerstimme spart weder in die eine noch in die andere Richtung mit sarkastischen Kommentaren.

Es sind eben Zeiten, in denen man sich am liebsten zu Steve, dem Murmeltier, das auf Sashas Anwesen haust, in den Bau verkriechen würde. In dessen Erdloch versteckt Sasha stattdessen nur ein Romanmanuskript, das Freund Vinod ihm vor vielen Jahren zum Lesen gegeben hat.

Er will es aus purem Neid aus dem Weg räumen, weil es Vinod im Gegensatz zu ihm selbst nämlich gelungen ist, einen Roman über etwas zu schreiben, das zum einen „wirklich“ ist und zum anderen nicht einmal von ihm selbst handelt. Und das ist wohl in der Tat etwas, das Gary Shteyngart nie gelingen wird.

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