Spielfilm „Earwig“ auf Mubi: Ein Ohrwurm, der kriecht

In ihrem Spielfilm „Earwig“ schafft die Regisseurin Lucile Hadžihalilović betörend-verstörende Seelenlandschaften in Bild und Ton. Er läuft auf Mubi.

Ein Mädchen bekommt eine Vorrichtung mit Glasfläschen an ihrem Mund angebracht.

Täglich neue Zähne aus Eis: Mia (Romaine Hemelaers) in „Earwig“ Foto: MUBI

Kein Licht dringt von außen ein. Schweigend betritt das Mädchen die Küche, setzt sich auf den einzigen Stuhl. Der Mann, dessen Gesicht nicht zu sehen ist, stellt ebenso wortlos Utensilien auf ein altes Serviertischchen, ein eingespieltes Ritual beginnt. Das Mädchen trägt eine Art Mundspange aus Metall und Glas, zwei Röhrchen transportieren den Speichel in transparente Fläschchen neben den Mundwinkeln.

Der Mann nimmt sie ab und gießt den Inhalt vorsichtig in eine Gebissform, verschließt diese und stellt sie ins Gefrierfach. Dort liegen identische Förmchen, mit gefrorenen Zahnreihen, die er dem Mädchen nun einsetzt, während es die Prozedur ruhig über sich ergehen lässt. Am Ende blickt es zu ihm auf und lächelt, aus ihrem Mund blitzen kristallklare kleine Klötzchen aus Eis.

Wer ist dieses Mädchen? Warum lebt es hier mit diesem Mann, abgeschirmt ohne Kontakt zur Außenwelt? Ist er ihr Vater? Ein Entführer? Lange ist nicht klar, was vor sich geht in „Earwig“, dem düster-rätselhaften Horrormärchen von Lucile Hadžihalilović. Albert (Paul Hilton) bereitet die Mahlzeiten für Mia (Romaine Hemelaers), beobachtet sie beim Essen ebenso schweigend, wie er seine Arbeiten verrichtet. Geräusche kommen allenfalls vom Haus, die tickende Uhr, die Gasflamme am Herd. Und die Pappmachéfiguren, die Mia über die knarzenden Holzdielen schleift.

Bis plötzlich das Telefon schellt. Eine Männerstimme erkundigt sich nach dem Mädchen, gibt Anweisungen. Es ist nach 25 Minuten der erste Dialog. Wer ist der ominöse Anrufer, der sich regelmäßig meldet? Was hat es mit den Anweisungen zum exakten Tagesablauf auf sich? Und warum befiehlt er Albert schließlich, das Mädchen auf die Abreise vorzubereiten?

„Earwig“. Regie: Lucile Hadži­halilović. Mit Paul Hilton, Romola Garaï u. a. Großbritannien/Frankreich/Belgien 2021, 114 Min.

Läuft ab 15. 10. auf Mubi

Visionen und Erinnerungen

Lange spielt der Film nur in diesem Haus, in dessen dunklen Fluren und Zimmerfluchten sich die Kamera immer wieder verliert. In der zweiten Hälfte öffnet sich die Handlung, Albert begegnet einem mysteriösen Fremden in einer Kneipe, im Affekt verletzt er mit einer abgebrochenen Glasflasche die Kellnerin schwer im Gesicht, Visionen und Erinnerungen durchdringen den sonst linearen Erzählfluss.

Ein kleiner Junge taucht auf dem Anwesen auf, womöglich eine Rückblende in Alberts Kindheit, der schon sein ganzes Leben hier verbringt. Und der nun am Abschied von dem Mädchen und seiner Routine zugrunde zu gehen scheint.

Dabei ist „Earwig“ keine Geschichte eines Spukhauses, Hadžihalilović braucht auch keine Schockmomente, um Spannung zu erzeugen. Ihr Film lebt von Verrätselung, einer bedrohlichen Atmosphäre, deren Grund letztlich nicht greifbar ist. Verhandelt es ein Trauma? Handelt es womöglich von einem Kindermissbrauch, wie ihr erster Kurzfilm „La Bouche de Jean-Pierre“ (1996)? Vieles wird angedeutet in „Earwig“, nichts ausformuliert.

Den eigenen Zugang finden

„Als Zuschauerin faszinieren mich Werke, aus denen ich nicht schlau werde und zu denen ich meinen eigenen Zugang finden muss“, sagt die Regisseurin im Gespräch während des Filmfestivals in San Sebastián, wo „Earwig“ im vergangenen Jahr mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. „Diese Seherfahrung versuche ich auch mit meinen eigenen Filmen herzustellen.“ Das erinnert in seinem Mysterium und der flirrenden Entschleunigung an die klaustrophob-surrealen Welten David Lynchs, dann wieder an britische Gothic-Ästhetik.

Dabei hat Hadžihalilović in bisher drei Langfilmen ihre ganz eigene Bildsprache entwickelt. Ihr Debüt „Innocence“ aus dem Jahr 2004, das lose auf Frank Wedekinds Erzählung „Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung junger Mädchen“ basiert, handelte von einem Mädchen, das in einer strengen Internatsschule aufwächst, mit einer irrealen Angst vor der Welt da draußen.

In „Evolution“ (2015) ist es ein kränklicher Junge, der beim Schwimmen im Meer eine Kinderleiche zu sehen glaubt. Wasser als unheimliches Element spielt auch in „Earwig“ eine Rolle, wenn beim ersten gemeinsamen Ausgang in die Natur Mia plötzlich wegrennt und an einem Waldsee ihr eigenes Spiegelbild sieht, bevor sie hineinstürzt.

Dialog als Teil der Soundtextur

Nicht nur die Bilder sind betörend, die Atmosphäre entsteht vor allem auch durch die Tonspur. Kino ist hierfür nonverbales Ausdrucksmittel, der Dialog ist nicht Träger von Information, sondern Teil der Soundtextur, wie die Geräusche und der von Warren Ellis produzierte Filmscore mit dem tranceartigen Leitmotiv. Unterbrochen von Momenten fast unerträglicher Stille.

Der Film beruht auf dem gleichnamigen Fantasybuch des Briten Brian Catling, das bereits sehr vieldeutig und ambivalent angelegt ist. Das erlaubte ihr und Co-Autor Geoff Cox, sehr frei mit dem Stoff umzugehen, das „eigene Unbewusste einfließen“ zu lassen, wie Hadžihalilović es nennt. Der Roman ist im belgischen Liège angesiedelt, im Film dagegen ist das Geschehen nicht verortbar und wirkt wie aus der Zeit gefallen. Das Haus und die nebelverhangene Gegend könnten auch irgendwo in Mitteleuropa sein.

„Ich hatte beim Lesen gleich Kafka vor Augen“, sagt Hadžihalilović. „Wir wollten eine Welt schaffen, die mehr Seelenlandschaft denn ein realer Ort ist“, erklärt sie. Und tatsächlich kriecht „Earwig“ wie ein filmischer Ohrwurm in den Kopf Alberts, findet Bilder für dessen Ängste und Begierden, die gerade deshalb so verstörend schön sind, weil sie nichts ausformulieren. Wie Albert, wenn er mit dem Glas am Ohr zu verstehen versucht, was hinter der Wand vor sich geht, müssen wir uns selbst einen Reim darauf machen.

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