Pazifismus in Zeiten des Krieges: Hart, aber nötig

Pazifismus konnte den Ukrainekrieg nicht verhindern. Das alte Ideal im Sinne der UN-Charta ist dennoch nötig, um den Krieg tatsächlich zu beenden.

Illustration eines Demonstierenden mit Peace-Flagge

Die Peace-Flagge weht im rauen Gegenwind Illustration: Katja Gendikova

Pazifismus ist nichts für Weicheier. Wenn es dazu noch eines Beweises bedurft hätte, haben die mittlerweile acht Monate Krieg gegen die Ukraine ihn erbracht. Wer sich skeptisch gegenüber weiteren Waffenlieferungen äußert, die Ansicht verbreitet, dass an Verhandlungen kein Weg vorbeiführe oder gar die Utopie einer Welt nicht aufgeben will, die auch gewaltsame Konflikte am Ende gewaltlos lösen kann, wird von allen Seiten zusammengeschossen. Selbst von ehemals Gleichgesinnten.

Denn auch einst stolz Zivildienstleistende, die den Akt der Kriegsdienstverweigerung wie einen Orden an der Brust tragen, eilen mit fliegenden Fahnen an die Front.

Dort trifft man keineswegs nur solche Egotypen wie FDP-Chef Christian Lindner, der heute ganz offen zugibt, dass er als junger Mann den Wehrdienst nur deswegen vermieden hat, weil der zivile Ersatzdienst besser zu seinen Geschäften als upstartender Yuppie mit Lederkoffer passte. Das klingt rückblickend wie ein Beleg der vielfach vertretenen These, dass die Kriegsdienstverweigerer in den 80ern vor allem Drückeberger waren. Aber es ist kein Grund zur Häme. Im Gegenteil. Wenn ein 18-Jähriger erkennt, dass der Bundeswehrdienst ökonomisch betrachtet verballerte Zeit ist, zeugt das ja von einer gewissen Lebensweisheit. Peinlich ist allenfalls, dass Lindner sich später quasi als Lebenslauf-Update doch noch zum Reserveoffizier berufen ließ.

Das könnte man mittlerweile auch Typen wie Anton Hofreiter zutrauen. Seit Beginn des Anti-Ukraine-Krieges kämpft der bei den Grünen an vorderster Front für Waffenlieferungen nach Kiew. 2015 hatte er das noch klar abgelehnt, weil es keine militärische Lösung des Konflikts geben könne. Immerhin muss er sich nicht vorwerfen lassen, als ehemaliger Kriegsdienstverweigerer zum Waffenfan geworden zu sein. Er war als junger Mann ausgemustert worden. Glück gehabt.

Pazifismus in Zeiten schweigender Waffen ist ein modisches Accessoire, das man sich wie den Button mit der Friedenstaube ans Revers heftet. Wenn es wie jetzt zur Sache geht, verschwindet er bei den meisten schnell in der Kiste mit den anderen Jugendidealen, die man sich abgeschminkt hat. Schlaghose, Palituch, BAP-Platte, Peace-Zeichen. Alles verdammt lang her.

In Kriegszeiten praktizierende Pazifisten hingegen gelten schnell auch mal als Verräter. Wer in der Ukraine selbst aus guten Gründen nicht an die Front will, muss sich verstecken oder fliehen. Wer als Russe nicht auf Ukrai­ne­r:in­nen schießen will, wird bei der Flucht in Nachbarstaaten gar als Sicherheitsrisiko eingestuft. Deserteur gilt in Zeiten des Kriegs oft als Schimpfwort. Anerkennung darf man, wenn überhaupt, erst Jahrzehnte später erwarten. Wie gesagt: Pazifismus ist nichts für Softies.

Keine der reinen Lehren führt zum Frieden, nur der für alle schmerz­hafte Kompromiss

Hinzu kommt: Der Pazifismus leidet mal wieder extrem unter einer ganzen Reihe seiner Für­spre­che­r:innen. Da sind zum einen die offensichtlichen Putin-Versteher:innen, mit denen man ums Verrecken nicht einer Meinung sein möchte. Die sind auch keineswegs gegen Gewalt, sondern allenfalls gegen Gewalt gegen Russland. Zum anderen sind da die Friedensfürsten, die mit einer unerträglichen Hybris mittlerweile nahezu täglich im TV oder in einer großen Zeitung darüber klagen dürfen, dass sie nicht zu Wort kämen. Als wäre Pazifismus nur was für Labertaschen.

Es steht also wahrlich nicht gut um den Pazifismus. Gehört er deshalb auf den Schrotthaufen gescheiterter Ideologien? Zeigt nicht gerade der menschenverachtende Angriffskrieg Russlands, dass An­hän­ge­r:in­nen gewaltloser Strategien jetzt einfach mal die Klappe halten sollten? Weil nur Panzer Putin zeigen, wo der Hammer hängt?

Ohne Zweifel muss man eingestehen: Pazifismus hat den Krieg nicht verhindern können. Und er wird ihn auch nicht stoppen, zumindest nicht, wenn man ihn nur mit dem Klischeebild von tanzenden Hare-Krishnas verbindet, die singend an die Front ziehen, um die Soldaten von ihrem Tun abzuhalten. Als wäre Pazifismus nur was für Traumtänzer.

Die Frage an alle, die den Pazifismus nun als weltfremd geißeln, muss trotzdem lauten: Was ist ihre Alternative? Denn auch alle anderen Deeskalationstools, die die Weltgemeinschaft bereithält, haben diesen Krieg nicht verhindern können.

Da ist zum einen der Kapitalismus, von dem seine An­hän­ge­r:in­nen glauben, dass er alle Probleme der Welt von allein lösen kann. Im Falle Russlands setzen die Marktapologeten auf das altbewährte Konzept Wandel durch Handel. Oder wenigstens: Annäherung durch Handel. Das ist grundsätzlich nicht falsch. Im Gegenteil. Nichts ist besser zur Konfliktvermeidung als eine gegenseitige Öffnung. Das hat ja schon in den 1970ern unter Willy Brandt zwischen BRD und DDR funktioniert.

Geschäfte mit Oligarchen führen zu einem erhöhten Preis

Dummerweise hat der Kapitalismus einen systemimmanenten Fehler: Ihm gelingt die eigentlich notwendige Internalisierung externer Kosten nicht. Kurz: In den Preis für Güter am Markt fließen nur die Kosten ein, die An­bie­te­r:in­nen und Her­stel­le­r:in­nen nicht auf andere abwälzen können. Bananen aus Ecuador sind billig in deutschen Supermärkten, weil das Leiden der Plan­ta­gen­ar­bei­te­r:in­nen nicht eingepreist ist. Autofahren ist günstig, weil die Folgen fürs Klima nicht mitbezahlt werden müssen. Und Gas aus Russland war preiswert, weil beim Import das spätestens seit 2014 bekannte Sicherheitsrisiko für die Ukraine keine Rolle spielte. Dass es dennoch bezahlt werden muss, sieht man aktuell Tag für Tag. Kapitalismus ist nur was für Ausblender.

Hinzu kommt, dass beim Russland-Gasgeschäft ein Anfängerfehler begangen wurde, den jeder nach einem Semester Betriebswirtschaftslehre auf dem Schirm hat: Geschäfte mit Monopolisten, aber auch mit marktbeherrschenden Oligarchen führen immer zu einem erhöhten Preis. Denn sie machen die Ab­neh­me­r:in­nen erpressbar. Und dass der zu zahlende Preis sich, wie bei den exorbitant gestiegenen Gasrechnungen, keineswegs nur in Euro oder Rubel berechnen lässt, zeigen die Bilder von den Raketeneinschlägen in der gesamten Ukraine.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Als Friedensgarant hat der Kapitalismus damit auf ganzer Linie versagt. Gescheitert ist auch die Strategie der militärischen Abschreckung. Wie das?, werden nun viele entgegnen. War die ­Armee der Ukrai­ne nicht einfach nur zu schwach, um Putin vom Angriff abzuhalten? Wenn man seinen Fokus allein auf das Kräfteverhältnis zwischen Russland und Ukraine richtet, mag das stimmen. Weitet man den Blick, erkennt man die Schieflage: Der Besitz von Atomwaffen hat den konventionellen Krieg nicht verhindert, sondern ermöglicht.

Eine Rückkehr zu den alten Geschäftsbeziehungen mit Russland verbietet sich von selbst. Die westlichen Staaten tun gut daran, sich von russischen Energielieferungen unabhängig zu machen. Schon um wenigstens auf dieser Flanke nicht mehr erpressbar zu sein.

Und eine militärische Lösung? Selbstverständlich, das kann man gar nicht oft genug betonen, hat die Ukraine das Recht, sich zu verteidigen. Jeder Schlag gegen das russische Militär ist ein Grund zur Freude. Doch selbst wenn die Ukrai­ne sich komplett befreien könnte, Putin besiegen wird sie nicht. Dafür müsste sie den Despoten aus dem Kreml vertreiben. Das ist nicht einmal denkbar.

Der Krieg könnte damit allenfalls zum Stillstand kommen, in etwa so wie nach 2014, vielleicht mit einem etwas günstigeren Frontverlauf. Aber er wird weiterschwelen. Befriedigend im Wortsinne ist das nicht. Zumal Putin durch die Annexionen die Grenzen für einen Einsatz von Atombomben so verschoben hat, dass es für die Ukraine unakzeptabel sein muss.

Für Idea­lis­t:in­nen mag das absurd, ja hart klingen. Aber Pazifismus ist eben nichts für Weicheier

Was also bleibt? Verhandlungen! Und zwar im Sinne des vom pazifistischen Weltgeist nach 1945 beschlossenen Artikel 33 der UN-Charta. Streitigkeit, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden, heißt es dort, sollen durch Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch beigelegt werden. Die UN-Charta bleibt eine der größten Errungenschaften der Menschheit. Sie sollte dringend wieder ernst genommen werden.

Aber, wird an dieser Stelle gern eingewandt, mit Hitler wurde zum Glück auch nicht verhandelt. Stimmt. Aber das Deutsche Reich verfügte auch nicht über Atomwaffen und konnte in einem konventionellen Krieg besiegt werden. Aber, sagen andere, Putin will doch gar nicht verhandeln. Stimmt, wenn auch nicht ganz. Es gab schon erfolgreiche Gespräche über einen Gefangenenaustausch. Das ist nicht mehr als ein Anfang, aber immerhin. Aber, werfen Dritte ein, muss man Putin nicht etwas anbieten und kann die Ukraine dazu gezwungen werden? Ohne Zustimmung der Ukraine geht selbstverständlich gar nichts. Ohne Kompromiss aber auch nicht.

Deshalb muss zum Beispiel auch über den Donbass, Luhansk und die Krim geredet werden können. Natürlich nicht, um sie Putin zu schenken. Sondern um herauszufinden, welchen eigentlich vielleicht unerträglichen Kompromiss es geben könnte, um eine atomare Eskalation zu vermeiden. Wie weit die Ukraine kompromissbereit sein will, muss sie letztlich selbst entscheiden.

Dass sie es derzeit nicht ist, ist genauso klar wie die Tatsache, dass Putin derzeit nicht verhandeln will. Aber so ein kategorisches, beidseitiges Nein war historisch betrachtet eigentlich immer der Istzustand, bevor es dann doch zu Friedensverhandlungen kam, bei denen beide Seiten über ihren Schatten springen mussten.

Könnte man Putin, sollte es zu Verhandlungen, zu einem Kompromiss kommen, vertrauen? Das fällt schwer. Sehr schwer. Aber Pazifismus im Sinne der UN-Charta lebt vom Vertrauen darin, sich vertrauen zu können. Weil man es muss.

Und schließlich gilt: Keine der reinen Lehren führt zum Frieden, sondern nur der für alle schmerzhafte Kompromiss. Bei den großen Antikriegsdemonstrationen im Frühjahr in Berlin wurden Plakate getragen, die die Friedenstaube auf ukrainischen Nationalflaggen zeigten und eine Flugverbotszone forderten. Also eine Art bewaffneter Pazifismus. Einer, der den Einsatz von Militär nicht ausschließt, dabei aber nie vergisst, dass der nur das Mittel zum Zweck sein darf: dem Erreichen einer Verhandlungslösung.

Für Idea­lis­t:in­nen mag das absurd, ja hart klingen. Aber Pazifismus ist eben nichts für Weicheier.

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Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters

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