Cancel Culture und Literatur: Einen Gang runterschalten, bitte

Es gibt Männer, die selbstbezogen über eigene Übergriffigkeit schreiben. Aber ein Canceln bedroht die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Text.

Eine Zeichnung zeigt eine Person in einem Buch mit vorgehaltener Hand

Wesentliche Grundlagen der Literatur gleich mit geschreddert?

Ich bin eine Frau und eine Autorin. Das ist jetzt kein Statement, auch kein Argument. Es ist nur ein offenbar notwendig gewordener Disclaimer in einem diskursiven Umfeld, in dem der Zugehörigkeit – oder Nichtzugehörigkeit – zu einer Gruppe mehr Bedeutung zugemessen wird als dem Inhalt des Gesagten: Wäre ich ein Mann, würde ich mich prompt dem Verdacht aussetzen, meine „toxische Männlichkeit“ noch nicht überwunden zu haben.

Als Frau, auch nicht nett, bin ich dagegen ständig Übergriffen und diskriminierender Bewertung ausgesetzt gewesen und werde es sein. Passiert ständig. In der Werbung, auf der Straße, neulich im Park ein Radfahrer: klatscht seine Hand auf meinen Po, im Vorbeifahren, dreht sich nicht mal um, lacht laut, haha. Ich hätte ihm gerne eine geknallt, mit kaltem Gesichtsausdruck, oder besser noch einen Tritt in die Eier verpasst, mitten in sein Machtgehabe hinein; aber ich war zu Fuß, und er schon weg. Oder Sprüche. Blicke. Griffe. Hab dich nicht so – ach, es ist ja alles bis zum Überdruss bekannt. Meistens kann ich wenig dagegen tun. Außer älter werden – für Ältere interessiert Mann sich, was körperliche Übergriffe betrifft, nur noch von hinten.

Auch in der Literatur wimmelt es nur so von Übergriffen. Jede Autorin, jeder Autor vergreift sich an der Wirklichkeit und macht Texte daraus. Über Frauen. Über Männer. Über alles dazwischen. Sogar über Kinder und Tiere! Ich mache das auch. Schreibe aus der sogenannten Opfer- und auch aus der sogenannten Täterperspektive. Ohne irgendeinen Täter oder irgendein Opfer oder gar all die Ambivalenten dazwischen um Erlaubnis zu fragen. Auch „Täter“ schreiben. Sie setzen sich hin und erzählen, was sie Frauen oder wem auch immer antun.

Zurzeit ist es Trend, dass Männer sich an der eigenen „neuen Männlichkeit“ aufgeilen, auch schriftlich. Ich kann das lächerlich finden, unangenehm, unangemessen. Ich kann auch doof finden, wie Autoren sich inszenieren, als fingernagellackierte, pferdeschwanzige „neue“ oder auch als „alte weiße“ Männer. Sie brauchen meine Erlaubnis nicht, um zum Teil langatmigen, selbstbezogenen, perspektivarmen, mehr oder weniger gut geschriebenen Mist zu erzählen, nicht mal, wenn ich, sagen wir als Ex-Freundin, sozusagen Ideengeberin bin, weil ich in der Wirklichkeit dem realen Verhalten eines solchen Autors ausgesetzt gewesen wäre. Und ihn gebeten hätte, eine bestimmte Sache NICHT zu erzählen. Kann er drauf eingehen – muss er aber nicht. Tut er’s nicht, ist es nicht nett, nicht fair, es lässt sozusagen tief blicken, aber das geht, solange mich sonst keine „erkennt“, eigentlich niemanden etwas an – außer mich und ihn.

Andere sehen das anders. Sie finden, Autoren müssten sich von zu Figuren verfremdeten Personen vorschreiben lassen, was und wie sie zu schrei­ben haben. Sie finden auch, dass, zum Beispiel, „narzisstische Selbstbespiegelung“ ein Kriterium dafür sei, einen Text nicht zu veröffentlichen. So weit ist das Niveau der Literaturkritik gesunken. Valentin Moritz zum Beispiel. In der im Juli erschienen, von ihm mitherausgegebenen, oftmals von der Kritik wegen ihrer demonstrativen Gutgemeintheit gerühmten Anthologie „Oh Boy. Männ­lich­kei­t*en heute“, bei der schon das pluralisierte Gendersternchen all meine idiosynkratischen Abwehrstacheln aufrichten, ja mich vor Ekel schütteln lässt, hat er eine Geschichte veröffentlicht. Es ist eine armselige Geschichte, locker geschrieben, aber in die Länge gezogen, nicht auf den Punkt, die Figuren bleiben blass; das zentrale Thema – ein sexueller Übergriff – steht seltsam leer, abstrakt, unbeschrieben.

Distanzieren muss man sich heute von allem, was nur den Anschein erweckt, keine superpersilweiße Weste zu haben

Wochen später erfährt die Öffentlichkeit, dass die Frau, die er in nicht genannter Weise körperlich bedrängt haben will, auf der Tanzfläche eines Clubs, ihn gebeten hatte, nicht darüber zu schrei­ben. Der betreffende „Vorfall“ nimmt im Text ein paar dürre Sätze ein, aus denen man nicht erfährt, was genau passiert ist, ob die beiden eine Beziehung hatten, wie der Kontext war – niemand wüsste, um wen es sich bei der Belästigten handelt. Nicht mal die Frau könnte sich – obwohl sie das behauptet – eindeutig identifizieren, zu beliebig und ungenau sei die Darstellung. Aber auf Instagram und Co behauptet eine pseudonyme Figur, der Text sei ein weiterer Übergriff, dessen Autor habe ein weiteres Mal ihr Nein nicht akzeptiert.

Und weil das Opfer immer recht hat, widerspricht niemand. Un­ter­stüt­ze­r*in­nen solidarisieren sich, ein kleiner Möchtegern-MeToo-Shitstorm zieht auf. Kommentatoren springen der Misshandelten ritterlich an die Seite: Der Autor ignoriere „die Opferperspektive“ (man fragt sich, was es für Kritik gehagelt hätte bei der „Anmaßung“, aus der Opferperspektive zu schreiben), missbrauche die „Täterperspektive“, um sich selbstgefällig zu inszenieren. Subtext: ein mieser Charakter.

Da ist wahrscheinlich etwas dran. In der Geschichte kreist ein Ich-Held um seinen Bauchnabel, geißelt sich seitenlang für sein Mannsein, will offenbar geliebt oder mindestens gelobt werden für seine Selbstzweifel, die so tief aber dann doch nicht gehen. Statt nun über die Schwäche des Textes zu sprechen, bricht man über den Autor den Stab. Er gilt als einer, der aus dem Leid der Frau Profit schlägt, anstatt dafür in der Hölle ewiger Selbstrechtfertigungsversuche zu schmoren. Es hagelte so heftig, dass der Verlag umschwenkte und die Auslieferung von „Oh Boy“ stoppte, in den Mea-Culpa-neue-Männlichkeits-Konsens einschwenkte und ankündigte, den inkriminierten Text aus der elektronischen Fassung zu entfernen.

Das wirft einige Fragen auf. Zum Beispiel die nach der Notwendigkeit, „Opfer“ – und „Täter“? – um Erlaubnis zu fragen, ehe man Erlebnisse mit ihnen literarisch verarbeitet. Oder die nach der zunehmend als Wahrheit akzeptierten Lüge, es gebe ausschließlich, Schwarz und Weiß, Täter und Opfer, mit der geschlechtlichen Ursünde ausgestattete Männer und geschlechts- und patriarchatsbedingt unschuldige Opfer.

Das geht so weit, dass andere in der Anthologie vertretene Autoren sich von Valentin Moritz, dem Verlag und der eigenen Publikation distanzieren – denn distanzieren, das muss man sich heute von allem und jedem, was auch nur den Anschein erweckt, in Sachen Sexismus keine superpersilweiße Weste zu haben. Andernfalls setzt man sich dem Verdacht der Kontaktschuld aus.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum anscheinend keine der Un­ter­stüt­ze­r*in­nen die Frau mal gefragt hat, ob es sinnvoll sein könnte, einen Gang runterzuschalten oder gar die Spur zu wechseln, ob der Umgang mit einer unguten Erfahrung womöglich besser mit einer Prise Humor gelänge, indem sie sich über die Lächerlichkeit eines selbstgefälligen, schmerzhaft weinerlichen Textes lustig macht, anstatt sich am Täter-Charakter von dessen Autor abzuarbeiten und ihrerseits eine Perpetuierung des Opfers zu inszenieren und dann zu beklagen.

Zu viel Ehre für einen Text

Das Ironische an der Angelegenheit: Die Frau, die ihren Fall nicht in einer Geschichte verwurstet haben wollte, nicht mal anonym, ist jetzt quasi bekannt, zwar hinter einem Instagram-Pseudonym versteckt – aber sie existiert. Dadurch schreibt sie dem Text zu viel Macht zu angesichts der Tatsache, dass es wohl keine Frau auf dieser Welt gibt, der nicht schon an Busen und Arsch gegrapscht, zwischen die Beine gefasst, Penisse an den Rücken gerieben, ekelhafte Blicke zugeworfen worden wären. Dergleichen Übergriffigkeit ist nichts, was irgendwie Patentschutz genösse.

Dennoch scheinen viele, gewissermaßen aus pädagogischen Gründen, das Canceln der Geschichte richtig, ja notwendig zu finden – und dieselbe Meinung, nein: HALTUNG, auch von denjenigen Mitautoren in der Anthologie zu erwarten, die sich noch nicht DISTANZIERT haben – Kim de l’Horizon zum Beispiel. Es ist, als erhöbe sich eine große Möchtegernlehrer*innenschar, um das Schreibvolk zu antisexistischem Verhalten zu erziehen und jedes Aufflackern „toxischer Männlichkeit“ umgehend auszustampfen.

Aber wer ihnen folgt, müsste große Teile der früheren und aktuellen Welt- und sonstigen Literatur aus den Regalen entfernen. Auch nicht wenige Kolumnen, Glossen, Essays kämen in den Schredder – womöglich auch dieser Text hier? Weil die Autorin vermeintlich uneinsichtig und unsolidarisch ist?

Sollte das Schule machen, wäre eine der wesentlichen Grundlagen sowohl für Kritik als auch für Literatur gleich mit geschreddert: die Unterscheidung von Autorin und Erzählerin, die Kluft zwischen Wirklichkeit und Text. Also der einzige Schutz, den beide haben. Die Brandmauer zur Übergriffigkeit fiele. Jedes „Opfer“ kann alles Mögliche behaupten und etwaige „Täter“ aller möglichen Dinge bezichtigen und dadurch als Autor unmöglich machen.

Im Dreck wühlen gehört dazu

Egal, ob ein Text gelungen oder ob dessen Autor eine unangenehme, ungeschickte oder übergriffige Person ist: Die Veröffentlichung eines Textes sollte nicht von irgendeiner ex-textorialen Erlaubnis abhängen dürfen. Wenn Publika­tionen bald nur noch möglich sind nach sexismusmoralischen Charakterchecks sowohl von Texten als auch von Urhebenden, sieht es finster aus für die Texterei.

Denn nur so entstehen Texte, gute wie schlechte: indem man, pardon, im Dreck wühlt, indem man Grenzen überschreitet – die zwischen Wirklichkeit und Buchstaben. Indem man also übergriffig wird und erzählt, wie irre, ambivalent, unangenehm oder gar schön bestimmte Verhaltensweisen in der Wirklichkeit sind. Subjektiv. Ungerecht. Ohne Triggerwarnung und ohne Erlaubnis von irgendwem. Auch wenn das, wie bei Moritz, nicht gelingt, sondern nur ein peinlicher Erguss wird. Dem womöglich demnächst ein noch peinlicherer, umfangreicherer folgt à la „Ein Mann bittet um Vergebung“ oder „Schuld. Sühne. Männer“ – es sei ihm nicht gegönnt, aber gestattet.

Wenn es jedoch mir, als Autorin, nicht mehr möglich sein soll, mich an der Wirklichkeit zu vergreifen, weil die Unterscheidung fällt, wird der ständige Übergriff der Wirklichkeit auf Ver­fas­­se­r*in­nen wie Texte möglich – und Literatur öde bis unmöglich.

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