Forscher über neue Migrationsdebatte: „Es gibt noch Raum“

Wie überlastet sind die Kommunen wirklich? Der Migrationsforscher Marcus Engler sagt, dass Geflüchtete nicht ausgewogen verteilt werden.

Eine Frau sitzt hinter einem Bildschirm

Screening in einer Erstaufnahme­einrichtung in Eisenhüttenstadt, Brandenburg Foto: Doro Zinn

wochentaz: Herr Engler, immer wieder hören wir, die Kommunen seien bei der Aufnahme von Geflüchteten am Limit. Stimmt das?

44, ist Sozialwissenschaftler. Er forscht am DeZIM-Institut zu Flucht- und Migrationsbewegungen sowie zu Flüchtlings- und Migrationspolitik.

Marcus Engler: Dafür müsste man zuerst einmal bestimmen können, wo dieses Limit denn liegt. Es gibt keinen objektiven Maßstab, um zu beschreiben, wie viele Menschen ein Land oder eine Kommune aufnehmen kann. Das wird vor allem politisch ausgehandelt. Die rechtlichen Instrumente, die wir haben – das Asylrecht im Grundgesetz, im europäischen Recht, nach der Genfer Flüchtlingskonvention –, regeln, wer Schutz bekommt. Aber nicht, wie viele. Dafür gibt es gute Gründe.

„Die Belastungsgrenze ist erreicht“ – solche Alarmrufe aus den Kommunen gibt es seit Monaten. Wie groß ist das Problem?

Das Aufnahmesystem ist auf so hohe Zahlen von Geflüchteten erst mal nicht vorbereitet. Das betrifft neben der Unterbringung auch die Infrastruktur in den Behörden, Kitas oder Schulen. Auch nichtstaatliche Hilfs- und Beratungsorganisationen sind überlastet. Es sind Engpässe, die vorher schon da waren. Und jetzt will der Bund die Mittel auch noch kürzen. Wir müssten sehr viel mehr über soziale Verteilungsfragen und die Stärkung der öffentlichen Infrastruktur sprechen. Es gibt allerdings große Unterschiede zwischen den Kommunen – und leider keinen mit Daten unterfütterten Überblick über die Gesamtlage bundesweit.

Wie kann das sein?

Die Verteilung auf die Kommunen verläuft regional sehr unterschiedlich. Auf Bundesebene gibt es den Königsteiner Schlüssel, der den Ländern je nach Steuereinnahmen und Bevölkerungszahl einen bestimmten Anteil an Geflüchteten zuweist. Der letzte Schritt aber, von den Landkreisen auf die Kommunen, ist nicht einheitlich geregelt. Da ist dann die Frage: Wo gibt es leerstehende Gebäude, die schnell bezogen werden können? Genauso aber spielt eine Rolle, wie sich die Bür­ger­meis­te­r*in­nen positionieren, ob es Widerstand aus der Bevölkerung gibt oder sogar rechtsextreme Drohungen. Immer wieder hören wir, dass sich Kommunen der Verteilung entziehen. In der Konsequenz müssen dann andere Kommunen sehr viele Menschen auf einmal versorgen.

In Upahl in Mecklenburg-Vorpommern sollten 400 Menschen in einer Kommune mit rund 700 Ein­woh­ne­r*in­nen untergebracht werden. Bei Protesten wurde beinahe eine Ratsversammlung gestürmt. Kann so etwas klappen?

Der Landrat hat händeringend nach Unterbringungsorten gesucht und sich in den Kommunen unzählige Absagen eingeholt. Das Grundstück für das Containerdorf gehört dem Kreis, sodass dieser darüber entscheidet. Solche großen Unterkünfte sind aus vielen Gründen problematisch, aber immer noch besser als Turnhallen. Grundsätzlich kann das funktionieren, auch dafür gibt es Beispiele. Das kommt tatsächlich sehr stark auf die politische Kultur vor Ort an.

Was meinen Sie damit?

Es steht außer Frage, dass viele Kommunen gerade stark gefordert sind. Aber wie man damit umgeht, ist eine politische Entscheidung: Will ich die Herausforderung meistern, oder will ich es nicht? Und im Moment ist die politische Diskussion oft nicht lösungsorientiert, sondern setzt vor allem auf populistische Symbolpolitik.

Es liegen doch sehr konkrete Vorschläge auf dem Tisch: Abschiebegewahrsam ausweiten, Migrationsabkommen, mehr sichere Herkunftsstaaten. FDP und Union wollen außerdem Geldleistungen für Geflüchtete durch Sachleistungen ersetzen, mehr Grenzkontrollen …

… das sind alles Maßnahmen, die eine sehr deutliche Botschaft senden sollen, nach innen und nach außen: Wir schotten uns ab. Diese Maßnahmen werden seit Jahren vorgeschlagen und zum Teil schon umgesetzt. Kurzfristig werden sie nicht zu spürbar sinkenden Zahlen Geflüchteter führen. Sichere Herkunftsstaaten wirken, wenn überhaupt, nur im Zusammenspiel mit dem Ausbau von Rückführungen, was viele Herkunftsstaaten aber nicht wollen. Wer an der Grenze aufgegriffen wird, hat trotz allem das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Sachleistungen sind schon jetzt möglich, viele Kommunen machen das aber nicht, weil es viel zu teuer und zu kompliziert ist. Und Sozialleistungen können laut Verfassung nicht noch weiter abgesenkt werden.

Wenn das alles wirkungslos ist, warum wird es dann überhaupt diskutiert?

Das ist strategisches Kalkül. Es geht darum, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. In Bayern und Hessen wird bald gewählt, nächstes Jahr sind Landtagswahlen in mehreren ostdeutschen Bundesländern. Und jedes Mal, wenn die Themen Flucht und Migration in Wahlkämpfe geraten, erleben wir eine völlig unsachliche Diskussion, die extreme Positionen hervorbringt und letztlich zu einer Verstärkung von Ängsten und Konflikten beiträgt. Seit etwa einem Jahr fährt die Union da eine gezielte Kampagne. Von der profitiert allerdings vor allem die AfD, obwohl ja das Gegenteil die Absicht der Union ist. Und die Ampelparteien sind ein Stück weit eingeknickt. Am deutlichsten ist die Veränderung bei den Grünen.

Was wären aus Ihrer Sicht die richtigen Lösungen?

Es gibt durchaus noch Raum in den Kommunen. Die Frage ist, wie schnell man dort Unterkünfte zur Verfügung stellen kann. Es braucht da ganz klar mehr Unterstützung vom Bund. Wobei wir immer wieder hören: Ja, ein bisschen Platz haben wir noch. Aber bitte nur für Ukrainer*innen. Das ist leider auch die Realität. Und man muss ja sagen, dass zum Glück noch niemand einen Aufnahmestopp für Ukrai­ne­r*in­nen gefordert hat. Dabei sind die mit etwa einer Million Menschen die weitaus größere Gruppe. Die Ungleichbehandlung von Geflüchtetengruppen ist schon sehr auffällig.

Mehr Unterkünfte also. Aber das ändert ja an der Ausgangslage nichts.

Anders als die Union und Teile der Ampel halte ich es für sehr sinnvoll, die Debatten um Flucht und Arbeitsmigration stärker zusammen zu denken. Wir sehen ja, dass die dringend benötigten Fachkräfte eher zögerlich nach Deutschland kommen oder nicht lange bleiben. Insofern wäre es sinnvoll und würde auch die Aufnahmesysteme entlasten, Menschen konsequenter dabei zu helfen, schnell in Ausbildung und Arbeit zu kommen. Die Ampel hat mit dem Chancenaufenthaltsrecht und der Reform der Fachkräfteeinwanderung sinnvolle Maßnahmen verabschiedet. Statt in dieser Richtung weiter zu denken, geht es in der Debatte nur noch um Rückkehr und Grenzschließung. Aus meiner Sicht eine reine Schimäre.

Wie meinen Sie das?

Menschen fliehen aus sehr komplexen Gründen. Es ist politische Folklore, dass man sie davon abhalten kann, indem man Grenzregime hochrüstet oder es den Menschen schwer macht, wenn sie hier ankommen. Nicht mal die hochgerüsteten EU-Außengrenzen in Griechenland samt brutaler Pushbacks oder die hohen Todeszahlen auf dem Mittelmeer sorgen dafür, dass weniger Geflüchtete kommen. Und es deutet wenig darauf hin, dass wir in Zukunft weniger Fluchtbewegungen haben werden. Im Gegenteil: Die Welt ist instabiler geworden. Es gibt weltweit die Ressourcen und Instrumente und mit dem Globalen Flüchtlingspakt sogar ein entsprechendes Abkommen, um das Thema wirklich anzugehen. Was fehlt, sind das nötige politische Commitment und die Weitsicht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.