Unicef-Sprecher über Gaza: „Ohne Ende Horrorgeschichten“

James Elder von Unicef war jüngst in Gaza. Das Leid der Kinder dort habe er „in 20 Jahren noch nicht gesehen“ – und hat klare Forderungen.

Menschen auf der Flucht durch die Plastikplane eine Notunterkunft gesehen

„Ich stehe auf der Seite der Kinder“: vertriebene Palästinenser in einer Notunterkunft in Rafah Foto: Ibraheem Abu Mustafa/reuters

taz: Herr Elder, Sie sind vergangene Woche aus dem Gazastreifen zurückgekehrt. Sie haben von der Lage vor Ort berichtet, fast wie ein Reporter: live aus Krankenhäusern oder nach Luft schnappend mitten im israelischen Bombardement. Was war der Sinn Ihres Besuchs?

James Elder: Als Sprecher von Unicef ging es darum, die Geschichten von Frauen, Kindern und humanitären Helfern zu erzählen. Meine Rolle war es, ein Sprachrohr zu sein für die Kinder, die keine Stimme haben und zumindest einige der schrecklichen Ereignisse vor Ort einzufangen. Außerdem war es mein Ziel, Klarheit in die Situation zu bringen, denn einige der Narrative aktuell sind sehr schwierig.

Zum Beispiel?

Das Narrativ der Sicherheitszonen. Rechtlich ist eine Sicherheitszone nicht nur ein Ort, der nicht bombardiert wird, sondern wo die Zivilbevölkerung auch Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Medizin hat. In den Sicherheitszonen in Gaza fehlt dies alles. Die Menschen werden aufgerufen, in Straßenzüge oder Nachbarschaften zu fliehen, in halbfertige Gebäude oder auf leeres Land, ohne Zugang zu Wasser oder Sanitäranlagen.

ist Pressesprecher des UN-Kinderhilfswerks Unicef. Er war während der Feuerpause Ende November in Gaza und erlebte die Wiederaufnahme der Kämpfe im Süden mit.

Israel hat mehrere Gebiete zu Sicherheitszonen erklärt, die größte davon ist al-Mawasi, ein Gebiet an der Küste. Wie sieht es da aus?

Al-Mawasi ist 14 Quadratkilometer groß, vier Prozent des Gazastreifens, und sollte ursprünglich sogar die einzige Sicherheitszone sein. Doch im Gazastreifen wurden 1,8 Millionen Menschen vertrieben. Die anderen Sicherheitszonen sind noch kleiner. Innerhalb von Stunden füllen sie sich mit Tausenden von Menschen, die oftmals schon drei- oder viermal den Ort gewechselt haben mit dem wenigen, was sie tragen können. Mädchen müssen teilweise fünf Stunden anstehen, um eine Toi­lette zu benutzen. Die meisten Sicherheitszonen haben gar keine Sanitäranlagen. Wir haben daher die große Sorge, dass sich Krankheiten wie Cholera oder Typhus ausbreiten. Die Bedingungen dafür sind da: keine Sanitäranlagen, wenig Wasser, Regen und Kälte.

Sicher vor Beschuss sind die Sicherheitszonen aber?

Es ist das Mindeste, dass Sicherheitszonen nicht bombardiert werden. Im Norden allerdings hat es laut Berichten Gebiete gegeben, die, nachdem sie zur Sicherheitszone erklärt wurden, unter Beschuss gerieten. Kriegsparteien müssen alle machbaren Vorkehrungen treffen, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Es ist irreführend, die Leute aufzufordern, sich in die Sicherheitszonen zu bewegen. Nichts an ihnen ist sicher.

Ihre Videos und Audios aus Gaza wurden viel geteilt, was auch daran liegt, dass Sie sehr offen, vielleicht auch undiplomatisch sind. Sie sprachen etwa von „Angriffen auf Mütter und Kinder“, einem „Krieg gegen Kinder“ oder einem „Blutbad“, was vor allem von pro­palästinensischen Medien wie Al Jazeera aufgegriffen wurde. Müssen Sie sich als UN-Mitarbeiter nicht neutraler ausdrücken?

Mehr als 6.000 Kinder wurden laut den Behörden getötet. Das sind über 40 Prozent der Toten, prozentual mehr als in irgendeinem anderen Krieg. Wenn Ihre Frage darauf abzielt, auf wessen Seite ich stehe, dann ist meine Antwort: Ich stehe auf der Seite der Kinder. Wir haben seit dem grauenhaften Angriff vom 7. Oktober auch immer wieder die Freilassung der israelischen Kinder in Gaza gefordert. Die Qual, die die Eltern durchmachen, ist unvorstellbar, wissend, dass ihre Kinder von Bewaffneten festgehalten werden. Angesichts der hohen Zahl getöteter und schwer verletzter Kinder in Gaza entsprechen die Deutlichkeit und Dramatik meiner Statements leider dem, was vor Ort passiert.

Sie waren in Afghanistan, in der Ukraine, in Somalia. Ist das Leid, dass Sie in Gaza gesehen haben, wirklich etwas anderes?

Vergleiche sind schwierig. Für mich persönlich sticht die schiere Dichte und Intensität von verletzten und getöteten Kindern heraus. Das habe ich in zwanzig Jahren noch nicht gesehen. In den Krankenhäusern brauchte ich mich nur umzudrehen, um ein weiteres Kind mit Kriegsverletzungen zu sehen. In den Notunterkünften hörte ich ohne Ende Horrorgeschichten: Meine Frau wurde getötet, meine beiden Töchter sind tot, ich habe mein Zuhause verloren, meinen Lebensunterhalt, ich kann mein Kind nicht mehr versorgen. In den Krankenhäusern sagte mir das Personal in einem Fall: Denken Sie daran, wenn Sie mit dem Kind sprechen, dass es noch gar nicht weiß, dass seine Eltern tot sind. Wir sprechen nicht ohne Grund von einem „Krieg gegen Kinder“.

Sie sind recht still, was die andere Seite angeht: die Hamas und ihre Kriegsführung. Warum? Was haben Sie vor Ort gesehen, nutzt die Hamas gezielt zivile Infrastruktur?

Das habe ich nicht gesehen. Wenn Orte genutzt werden, um sich hinter Zivilisten zu verstecken, ist das ein klarer Bruch des Völkerrechts, genauso wie die Gräueltaten vom 7. Oktober. Aber wir versuchen, auf die Rechte von Kindern aufmerksam zu machen in einem Krieg mit der unverhältnismäßigsten Tötung von Kindern in der Gegenwart. Je länger dieser Krieg anhält, desto weiter entfernen wir uns von einem Frieden, der den Kindern in Israel, im Gazastreifen und im Westjordanland Sicherheit bringt.

Was konkret fordern Sie in der aktuellen Situation?

Einen Waffenstillstand.

Und solange es keinen gibt?

… müssen wir damit leben, dass die Menschen an Seuchen und aufgrund von Flüssigkeitsmangel sterben. Im Gazastreifen gibt es nicht genug Hilfe und die Verteilung im Kriegsgebiet ist extrem schwierig. Wir brauchen Wasser, Essen, Unterkünfte und Sanitäranlagen, um Seuchen zu stoppen. Wie schafft man das? Mit einem Waffenstillstand.

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