51 Tote bei Raketenangriff bei Charkiw: Das getroffene Dorf

Der Angriff auf das ukrainische Dorf Hroza ist der bislang blutigste russische Terrorakt im Gebiet Charkiw. Die Hinterbliebenen ringen um Worte.

Eine Frau steht trauernd mit Blumen in der Hand am Rand einer Straße, die von Zerstörung gezeichnet sit. Im Hintergrund ein resttlos zerbombtes Gebäude, die dem Hilfstrupps stehen

Eine Frau legt nahe der Einschlagsstelle Blumen für die Opfer nieder Foto: Thomas Peter/reuters

Tatjana Lukaschowa steht vor dem ehemaligen Ladencafé des Dorfes und weint. „Die Explosion war so stark, dass die ganze Erde zu zittern begann“, erzählt sie. An dem Ort, an dem am Donnerstagnachmittag eine Rakete einschlug, hat niemand überlebt.

In dem Café waren zum Zeitpunkt des Angriffs auch Tatjana Lukaschowas 43-jährige Tochter und ihr Schwiegersohn. Die Leiche des Schwiegersohns wurde bereits gefunden und identifiziert, aber ihre tote Tochter hat die Frau noch nicht gesehen. Sie hat sich entschieden, hier zu warten, bis die letzten Toten gefunden wurden.

Lukaschowa erzählt, dass in dem Café gerade eine Gedenkfeier für einen aus Hroza stammenden Soldaten stattfand, der schon 2022 gestorben war, aber erst jetzt in seinem Heimatdorf bestattet werden konnte. Aus diesem Anlass hatte seine Familie zu einem Essen eingeladen, zu dem sich rund 60 Dorfbewohner versammelt hatten.

Im Hof des ehemaligen Ladencafés liegen zahlreiche Leichen, manche bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt. Einige sind schon in weiße Plastiksäcke verpackt, die anderen liegen einfach auf der Erde. Immer wieder führen Ermittler Menschen zu den Leichenteilen. Ein alter Mann mit Namen Serhij fällt vor den Überresten einer Frau auf die Knie und beginnt zu schluchzen. Von dem Frauenkörper ist nur der Rumpf übrig, Serhij erkennt seine Angehörige an den Fetzen ihrer Kleidung.

Neben vielen Leichensäcken steht niemand

Fast niemand hier möchte mit Reportern sprechen. „Wozu sollen wir jetzt ein Interview ­geben? Das bringt uns die Menschen nicht zurück!“ Serhij schreit jetzt fast.

In der Mitte des Hofes sitzt ein Mann neben einer verpackten Leiche, er weint und flüstert etwas. Dann wird der Leichensack auf einen Lkw geladen, der die Toten in das Leichenschauhaus von Charkiw bringt.

Ein großer Mann schafft es gerade noch bis zu dem fast zerstörten Zaun des Cafés, lehnt sich daran und bleibt fast eine Viertelstunde regungslos dort stehen. Der Mann lehnt jede Hilfe ab, will weder Tee noch Wasser. Als ich ihn anspreche, beginnt er zu schluchzen und versucht mühsam, die Tränen zurückzuhalten.

Das Schrecklichste an der ganzen Situation ist, dass neben den meisten Leichensäcken keine Angehörigen oder Freunde stehen. Tatjana Lukaschowa erklärt, dass hier ganze Familien umgekommen sind, ganze Häuser entlang der Dorfstraße sind jetzt leer.

51 von 330

Der Polizeichef des Gebietes Charkiw, Wolodymyr Tymoschko, sagt, dass bis zum Donnerstagmorgen 330 Menschen in Hroza gelebt haben. Eine einzige Rakete habe auf einen Schlag 51 von ihnen getötet. „Fast aus jedem Haus sind Menschen ums Leben gekommen“, sagt Tymoschko.

Der Raketentyp habe bereits anhand der Markierungen auf den geborgenen Trümmern bestimmt werden können, erklärt er. Es handele sich um eine russische ballistische Rakete vom Typ Iskander-M. „Es gibt nur eine Richtung, aus der der ganze Ärger hier kommt: aus Russland. Aus anderen Richtungen werden wir nicht bedroht, nur aus dieser einen“, sagt Tymoschko.

„Wir werden alle notwendigen Ermittlungen durchführen, um die Identität derjenigen zu ermitteln, die die Rakete auf dieses Gebäude gerichtet haben, und wir werden alle Eventualitäten prüfen“, sagt der Polizeichef zu den Gerüchten, jemand habe absichtlich das Ladencafé zum Zeitpunkt der Gedenkfeier ins Visier genommen.

Bruder, Mutter, Schwägerin

Dorfbewohner Olexander Muchowatyj hat bei dem Anschlag drei Angehörige verloren. „Ich war während der Explosion nicht hier. Ich habe davon erfahren, weil mein Bruder nicht ans Telefon ging. Und dann riefen sie meinen Neffen an und er sagte, dass Papa, Mama und Oma hier unter den Trümmern liegen. Mein Bruder, meine Schwägerin und meine Mutter waren hier. Mein Bruder wurde schon gefunden, seine Frau und unsere Mama noch nicht“, erzählt Muchowatyj.

Olexander Muchowatyj, Angehöriger von Opfern

„Ich bin mir sicher, dass dies ein sehr gezielter und bewusster Angriff war. Die Rakete war ein Volltreffer“

Er ist davon überzeugt, dass die Russen ganz bewusst das Ladencafé angegriffen haben. Jemand habe die Rakete direkt darauf ausgerichtet, genau zu der Zeit, als die Gedenkfeier dort stattfand. „Sie wurde mit hundertprozentiger Sicherheit bewusst auf uns gerichtet. Ich denke, viele haben während der Zeit der russischen Besatzung mit den Orks (abwertende ukrainische Bezeichnung für die russischen Besatzer; Anmerkung der Redaktion) zusammengearbeitet. Sie haben das Gebiet nach der Befreiung durch die ukrainische Armee verlassen, aber sind weiter mit ihren Angehörigen hier in Kontakt“, sagt Muchowatyj.

„Ich bin mir sicher, dass dies ein sehr gezielter und bewusster Angriff war. Die Rakete war ein Volltreffer.“

Der Gouverneur des Gebiets Charkiw, Oleg Sinegubow, sagt, dass es nicht nur 51 Tote gab, sondern auch noch sechs weitere Menschen durch den russischen Raketenangriff verletzt wurden. Einige von ihnen lebensgefährlich. Da alle Menschen, die am Donnerstagnachmittag in dem Café waren, tot oder schwer verletzt seien, könne auch niemand mehr etwas über den Angriff erzählen, sagt er.

Dreitägige Trauerzeit

25 Wohnhäuser seien durch den Raketenangriff beschädigt worden, die Menschen würden umgehend mit Baumaterialien und allem anderen Lebensnotwendigen unterstützt, betont der Gouverneur.

Der Anblick des Dorfs schockiert selbst den Chefermittler des Gebietes Charkiw, Serhij Bolwinow. „Als Chefermittler habe ich schon viel gesehen. Ich war im letzten Herbst auch bei den Massengräbern in Isjum, wo wir sehr viele Leichen exhumiert haben. Aber dass 51 Menschen auf einmal sterben, sehe ich persönlich wirklich zum ersten Mal“, sagt er.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

„Es ist schwierig, diese Tat zu charakterisieren. Man könnte sagen, so etwas tun nur Terroristen. Und russische Soldaten können so etwas tun. Ein ziviles Ziel, ein Café, anzugreifen, in dem sich ausschließlich Zivilisten aufhalten, die einem Gefallenen aus ihrem Dorf die letzte Ehre erweisen.“ Jeder normale Mensch verstehe, dass das nichts anderes als ein Terrorakt sei, nichts anderes als der Bruch von Gesetzen und Regeln im Krieg, sagt er.

Bis Donnerstagabend seien 35 von 51 Leichen identifiziert worden, fügt der Chefermittler noch hinzu. Leichen, die anhand äußerer Merkmale nicht mehr zu erkennen sind, werden jetzt mittels DNA-Proben identifiziert. Alle Verstorbenen würden mit einem Militärlaster nach Charkiw gebracht. Die Untersuchung vor Ort sei abgeschlossen.

Ab dem 6. Oktober wird es im Dorf Hroza zahlreiche Beerdigungen geben. In der Region Charkiw wurde eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen.

Aus dem Russischen: Gaby Coldewey

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