Digitale Süchte: Advent, Advent, nee nee, so nicht

Unsere Autorin ist süchtig nach Online-Adventskalendern. Türchen für Türchen träumt sie von Luxusreisen, Kaschmirpullis oder Designerstühlen.

Ein Erdmännchem im Londoner Zoo öffnet ein Adventskalendertürchen

Ein Erdmännchem im Londoner Zoo öffnet ein Adventskalendertürchen Foto: Cover-Images/imago

Alles begann mit einem Lavazza-Kalender aus dem Jahr 2009 mit Fotos von Annie Leibovitz. La dolce vita auf jedem Bild. Im Zentrum: Frauen. Gern mal halbnackt. Das Setting: Spaghetti-essend oder im Kolosseum, Hauptsache irgendwas mit Italien. Das wiederkehrende Accessoire: ein Lavazza-Tässchen. Models in großer Pose stellen italienische Kultur nach, und irgendwo lauert der Espresso. So in etwa die Aussage der Leibovitz-Fotos.

Aus einem Grund, der mir nicht mehr nachvollziehbar ist, wollte ich diesen Kalender unbedingt haben. Was notwendig war, um ihn zu bekommen? Man sollte ein Türchen in einem digitalen Adventskalender öffnen – und hoffen. Das hab ich gemacht. Seither bin ich süchtig.

Online-Adventskalender gehen so: Unternehmen auf der Suche nach Kundenbindung verlosen an jedem Tag im Advent irgendetwas. Seit diesem Jahr macht das auch die taz. Auf einer weihnachtlichen Bildschirmoberfläche muss ein Türchen geöffnet werden. Klickt man auf die richtige Zahl, die dem passenden Tag im Dezember entspricht, öffnet es sich. Dahinter befinden sich die allerschönsten Dinge aus der Konsumwelt. Online-Adventskalender sind die christlich verbrämte Perversion des Kapitalismus. Es geht ums Haben-wollen. Nicht um Wollust, sondern um Will-Lust. Nicht um Begehren. Das Wort ist viel zu schön. Es geht um Gier.

Weihnachts-Kalender-Sammel-Plattformen

Es gibt eigens Plattformen, auf denen all die Adventskalendergewinnspiele gelistet sind. Ich benutze ganz gerne eine, wo die Startseite keinen Weihnachtsmann zeigt, sondern die Zeichnung eines Hirsches. Das wirkt auf mich nicht so kitschig. Unter der Top-Gewinnspiel-Kategorie sind die Links zu den digitalen Adventskalendern von Kaufland, Spiegel, Netto, BILDspielt, Hey Piggy, Stern – um nur einige zu nennen. Ungefähr 800 digitale Gewinnspiele sind dort schon am Anfang der Adventszeit gesammelt. Im Laufe der 24 Tage werden es mehr.

Wenn der Advent so richtig im Gange ist, habe ich mir meine eigene Top-Liste erstellt. Weil ich etwas auf mich halte, sind da vorwiegend Adressen aus dem alternativen Spektrum drauf. Hess Natur, avocadostore, Weleda und so weiter. Aber auch an faz.net komme ich nicht vorbei. Da gibt es meist die neuesten Sachen aus der Elektronikwelt zu gewinnen – edelste Espressomaschinen, wandfüllende Bildschirme mit einer Auflösung, die es einem erspart, in den Urlaub zu fahren, hochwertige HiFi-Klangwelten, die jedes Konzerthaus ersetzen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Schwach werde ich auch bei teurem Design. Deshalb öffne ich unbedingt Türchen bei der Vogue für Kaschmirpullover, Taschen oder Luxusurlaube in Luxusressorts. Und beim Möbelmagazin Bolia –für Beistell­tische, fancy Lampen oder sonst irgendwas, das ich mir niemals leisten könnte. Solche Edelfirmen haben es mir besonders angetan. Öffne ich ein Türchen und sehe etwas, spüre ich die Sehnsucht, es zu besitzen. Ich spüre sie extrem.

Dann fülle ich das Onlineformular aus, gebe meine Adresse, mein Geburtsdatum her, mit einer Freigiebigkeit, die sonst nicht zu mir passt. Ich verhalte mich absolut jenseits des Verstandes, bin nahezu lobotomiert, weil die schönen Bildchen von edlen Hockern oder Tablets oder italienischen Schuhen mir mein Hirn vernebeln. Wie einst der Lavazza-Kalender.

Manchmal muss man eine Frage beantworten oder ein Rätsel lösen, bevor man sich für den Gewinn eintragen darf. Faz.net ist so ein Kandidat. Ich empfinde diese Hürden als Zumutung. Ich will sofort zum Gewinnformular.

Reicht schon die Vorstellung?

Ich will mir für einen Augenblick vorstellen, wie es wäre, wenn ich das neueste Apple-Gadget oder eine geistig-transzendente Rolex gewinnen, also besitzen, würde, und weder Spielchen machen noch Fragen beantworten, etwa danach, welcher Fifa-Vorstand wieder welche Korruption zu verantworten hat.

Denn mir vorzustellen, dass ich etwas gewinnen könnte, ist der Moment, der mich verzaubert. Den will ich festhalten. Wie früher, als ich manchmal Lotto spielte, nur um mir zu vergegenwärtigen, was ich mit all dem Geld tun würde. Weil ich mich für dieses Gefühl schämte, habe ich nur selten nachgeguckt, ob die Zahlen, die ich tippte, gezogen wurden. Wahrscheinlich bin ich eine der Kandidatinnen, die ihr Lottoglück verfallen ließen, weil die Vorstellung vom Reichtum schon reichte, um sie zum Träumen zu bringen.

Auch bei dieser Online-Adventskalendersache überkommt mich mitunter Scham. Ich möchte nicht, dass mich jemand dabei beobachtet, wenn ich die Gewinnformulare ausfülle. Zumal es zeitaufwändig ist, und meistens auch nicht geht, wenn man nicht einwilligt, ab sofort mit Werbung zugemüllt zu werden.

Blöde verhalte ich mich auch. Denn würde ich, anstatt zwei Dutzend Türchen zu öffnen und das digitale Prozedere zu durchlaufen, ein Dutzend Türchen öffnen, dabei aber nicht nur für mich, sondern auch für meine Gefährtin das Gewinnformular ausfüllen, unsere Chance auf einen Gewinn hätte sich verdoppelt. Warum ich es nicht mache? Wahrscheinlich, weil ich alles für mich alleine haben will.

Bei Online-Adventskalender-Glücksspielen mitzumachen ist die sinnloseste Beschäftigung, der ich mich je hingegeben habe – außer am Computer Solitär zu spielen. Es ist wegen des Reizes, etwas zu besitzen, das man als schön empfindet. Ob ich dem dieses Jahr wieder verfalle? Ich bin bereit.

Und einmal hat es ja auch geklappt: Ungefähr im März 2009 bekam ich ein Riesenpaket. Es war der Lavazza-Kalender mit Fotos von Annie Leibovitz. Er hat mir gar nicht gefallen. Ich habe ihn noch irgendwo. Will ihn jemand?

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