Viktor Jerofejew über Putins Psyche: „Er war gelangweilt“

Putins Verhalten ähnelt dem eines rachdurstigen Mafioso, sagt der Schriftsteller Viktor Jerofejew. In seinem Roman „Der große Gopnik“ analysiert er ihn psychologisch.

Wladimir Putin mit erhobenem Zeigefinger

„Der große Gopnik“: Wladimir Putin Foto: Sergei Bobylev/Sputnik/Kreml/ap

wochentaz: Versuchen wir, uns in Putins Psyche zu versetzen. Warum hat der Kreml-Zar den Krieg gegen die Ukraine entfesselt?

Viktor Jerofejew: Weil er gelangweilt war. Putin war schon immer ein Mann des Krieges. Deshalb heißt mein Roman auch „Der große Gopnik“. Auf Russisch ist Gopnik der kleine Ganove, der ein unbändiges Verlangen nach Rache hat. Sein Leben ist von einer Parole geprägt: „Ich werde siegen!“ Vor dem Krieg war Putin sehr gelangweilt: Jeder in Russland lag ihm zu Füßen, jeder dort ist sein Sklave.

Entschuldigen Sie, ist das nicht eine zu groteske Interpretation des Krieges?

Nicht mehr, als Putins Geist grotesk ist! Er hat einen Krieg entfesselt ohne eine wirkliche Ideologie oder Strategie. Jedes Mal, wenn man versucht zu fragen, warum diese Tragödie passiert ist, kommen er und seine Sprecher mit etwas Neuem daher. Aber wenn wir jetzt in sein Gesicht schauen, sehen wir, dass der große Gopnik gelassener ist.

76, ist 2022 nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine aus Russland geflohen. Er ist die weltweit bekannteste literarische Stimme Russlands. Sein Roman „Der große Gopnik“ erschien im vergangenen Jahr im Verlag Matthes & Seitz zuerst auf Deutsch.

Ist sein Krieg nur gegen die Ukraine oder auch gegen Europa oder den Westen gerichtet?

Als er beim KGB war, in Dresden, war er gerne in Deutschland. Aber wie jeder russische Gopnik misstraut er Europa. Europa ist entwickelt, es ist voller Ideen und Technologie. Als die Ukrainer ihre Unabhängigkeit forderten, warnte er davor, wie gefährlich ihr „westliches Abdriften“ sei, denn es zeige die ganze Schwäche Russlands. Putin lebt in einer archaischen Welt mit primitiven Werten.

Können Sie uns mehr über diese primitiven Werte erzählen?

Aus seiner Sicht ist die Ukraine eine untreue Ehefrau, die sich zuerst Europa zugewandt und nun einen amerikanischen Liebhaber gefunden hat. Putins Ur-Impuls ist es, sie für den Verrat zu bestrafen und mit Bomben zu zwingen, wieder sein Land zu werden. Viel komplizierter ist es für ihn, der Welt zu erklären, warum er diesen Krieg um seine angeblich verletzte Ehre führt.

Dafür sorgen Fake News und die Propaganda des Kremls.

Die erste Welle von Fake News erzählte, dass die Ukraine schon immer russisch gewesen sei. Dann wurden aus dem Kreml metaphysische Erklärungen lanciert, die den Krieg in einen religiösen Kreuzzug verwandelten. Wir Russen sind die Guten, ihr Ukrainer und Westler die Bösen. Wir Russen sind die Heiligen, und ihr seid die Nazis des 21. Jahrhunderts, oder schlimmer noch, die Kinder Satans auf Erden.

Welche Rolle spielt der KGB in Putins Leben?

Der junge Wladimir war ein kleiner, unglücklicher Junge, und der KGB war für ihn ein heiliges Gehege, das ihn vor jeglichem Vergehen schützte. Die Methoden des KGB waren für ihn eine Schule des Überlebens und des Glücks. Sein ganzes Leben lang wollte der Große Gopnik nichts anderes, als sich beschützt zu fühlen. Und heute, isoliert in seinen Bunkern, ist dies der Grundgedanke, der ihn beseelt.

Das Problem ist aber auch die russische Bevölkerung, ihre Reaktion auf einen Krieg, der seit zwei Jahren andauert und bisher über 370.000 russische Soldaten das Leben gekostet hat. Warum hat Putin immer noch so viel Zustimmung?

Weil er nicht so ist wie Sie oder wie Ihre Leser. Er zählt nicht die gefallenen Soldaten, es ist ihm egal, wer lebt und wer tot ist. Ihm geht es nur um den Sieg seiner Armeen. Unter diesem Gesichtspunkt ist er völlig unmenschlich. Aber Vorsicht, wenn ich meinen Roman geschrieben habe, dann deshalb, weil die Geschichte von Putin uns alle tief interessiert, jeder von uns trägt in der Tat einen kleinen Gopnik in sich.

Dies ist auch die These des Großinquisitors in Dostojewskis „Brüder Karamasow“. Wenn es in Russland so viel Bedarf für den starken Mann gibt, dann deshalb, weil wir „verängstigte Rebellen“ sind, sagt der Inquisitor zu Christus.

Ich habe viel Dostojewski gelesen und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir mehr als mutlose Rebellen Opfer unseres Menschenbildes sind. Das heißt, wir glauben, dass die Menschen an sich gut sind und dass nur die historischen und sozialen Umstände sie schlecht machen. Okay, und wer hat die schlechten Umstände geschaffen? Deshalb sind die Ideen von Rousseau sehr schöne Ideen, die leider nicht mit unserer unvollkommenen Wirklichkeit übereinstimmen.

Ihrem Roman liegt also eine eher skeptische Sicht der menschlichen Natur zugrunde?

„Der große Gopnik“ ist ein Roman über die menschliche Unvollkommenheit. Putins wahnwitzige Idee ist, dass Russland durch die Bestrafung des ukrainischen „Verräters“ vollkommener wird. Unsere Unvollkommenheit hingegen besteht darin, dass wir uns trotz aller digitalen Technologien weniger gut kennen als im alten Griechenland. Kurz gesagt, wir leben nicht nur in einem Zeitalter der Kriege, Diktaturen und Covids, sondern werden auch von einer tödlichen Epidemie der Dummheit heimgesucht. Und was ist Putins Diktatur anderes als der Triumph der Dummheit und der radikalen menschlichen Unvollkommenheit?

Die russische Geschichte besteht nur aus tragischen Unvollkommenheiten: Zarismus, Stalinismus und heute Putinismus?

In Russland haben wir keine wirkliche Geschichte, sondern ein Karussell, das sich ständig dreht, nur mit anderen Akteuren. Das russische Karussell ist mehr ein grausames Märchen als Geschichte, nach dem Zarismus und Stalin ist Putin auf das Karussell aufgestiegen, aber das Karussell ist immer noch an der gleichen Stelle.

In Ihrem autobiografischen Roman „Der gute Stalin“ schreiben Sie, wie das Virus Stalin bis heute die russische Gesellschaft infiziert.

Ja, und dieser Virus des Stalinismus ist auch nicht sehr rational. Wenn man alle Viren unserer Geschichte zusammennimmt, versteht man, warum wir so bedeutende Schriftsteller, Musiker und Maler haben: In Russland berühren wir die Unendlichkeit der menschlichen Unvollkommenheit, Grausamkeit und Idiotie.

Sie sprechen aber auch von einem „magischen Totalitarismus“. Ist das die russische Variante des Totalitarismus?

Es kam mir in den Sinn, unseren Totalitarismus in magisch umzubenennen, als ich „Der gute Stalin“ schrieb. Als Kind habe ich diese Art von Magie in meiner Umgebung in Moskau wahrgenommen. Ich wuchs unter Menschen auf, die an das sowjetische System als etwas Magisches glaubten. Ja, Putin hält den Mythos Stalin aufrecht, aber er ist kein Gläubiger. Er kann der Welt sein System nicht als magisch vorschlagen, sondern fühlt sich nur gezwungen, sie mit Bomben zu erobern. Das ist der klare Unterschied zur sowjetischen Zeit: Putin hat keine Vorstellung von der Zukunft. Der Westen mag heute sehr schwach sein, aber die Menschen, die hier leben, haben ihre eigene Zukunft. In Putins Russland hingegen fehlt den Menschen völlig der Horizont der Zukunft.

Ja, aber heute erobert die extreme Rechte halb Europa: in Italien mit Giorgia Meloni, in Frankreich mit Le Pen, in Ungarn mit Orban. Ist der Nationalismus der gefährlichste Virus des 21. Jahrhunderts?

Dass das Fieber des Nationalismus heute so weit verbreitet ist, ist in dieser Zeit der extremen Dummheit fast logisch. Die Idee, dass die eigene Nation die erste und besser ist als die anderen, spricht immer die Einfältigen an. Das ist es, was ich meinte, als ich von der Schwierigkeit sprach, die eigenen Unvollkommenheiten zu akzeptieren. Und dass wir alle danach streben, ein Gopnik zu sein, ein kleiner Mafioso mit einem Messer in der Tasche.

Es gibt eine wunderbare Definition von Putin in dem Roman: „Er ist kein Leser“. Kurzum, Putin hasst Intellektuelle.

Er hat einmal gesagt, er liebe die Philosophie Kants. Armer Kant! Ich erinnere mich an einen Abend im Jahr 2005 in Paris. Ich war dort mit anderen Schriftstellern, die von Chirac und Putin eingeladen waren. Der französische Präsident lobte „Der gute Stalin“ neben einem Putin, der bereits begonnen hatte, uns Schriftsteller zu unterdrücken. Dann betrat Putin das Podium, erwähnte Balzac und Dumas, und das war's. Als die Diskussion zu Ende war, wandte ich mich an Chirac und sprach mit ihm auf Französisch. Putin nahm mich beiseite, stellte sich mit gespreizten Beinen in seiner Bodyguard-Pose hin und rief: „Warum hast Du ihn auf Französisch angesprochen?“ Er hatte wohl Angst, dass ich ihn beim französischen Präsidenten schlecht mache. Sie sehen, auch diese Szene ist Teil des Karussells der russischen Geschichte.

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