Zwei Jahre Krieg in der Ukraine: Der lange Weg nach Westen

Hals über Kopf flüchtete Katja Tschepurna im Februar 2022 mit ihrem Sohn Tymofii nach Berlin. Doch die eigentliche Reise begann schon viel früher.

Eine Frau steht in einem Park

Katja Tschepurna aus der Ukraine lebt jetzt in Berlin Foto: Thomas Gerlach

BERLIN taz | Katja Tschepurna kommt an diesem Freitag direkt vom Sprachkurs ins taz-Gebäude. Das Sprachinstitut liegt am Potsdamer Platz. Die Meldung vom Tod Alexei Nawalnys bahnt sich gerade ihren traurigen Weg und im Kanzleramt unterzeichnen Wolodimir Selenski und Olaf Scholz eine Sicherheitsvereinbarung, von der keiner weiß, was sie wert ist. Den Sound dazu liefern Hubschrauber, die unter der Wolkendecke hängen – höchste Sicherheitsstufe für den ukrainischen Präsidenten. Ihr Dröhnen ist nicht zu überhören und im Sprachunterricht hatten ukrainische Frauen einen Flashback, erzählt Katja Tschepurna „Sie hatten Tränen in den Augen.“

Und bei Katja selbst? Sie erzählt von den Tränen ihres Sohnes am Morgen des Angriffs. Vor ihrer Wohnung in der 17. Etage in einem Kyjiwer Hochhaus ziehen Hubschrauber vorbei, auf der Straße fallen Schüsse, Explosionen erschüttern die Luft und ganz langsam erhebt sich vor dem Fenster eine Rauchsäule, breitet sich aus und nimmt bald den ganzen Horizont ein. Der Flughafen Hostomel brennt. Und bei ihrem Sohn Tymofii fließen Tränen. „Er war ganz still“, sagt sie. Kinderaugen, keine zehn Jahre alt, sehen den Krieg.

„Wir sind runter in die Tiefgarage.“ Sie wird zum Luftschutzbunker und Katja versucht, ihre Gedanken zu ordnen, der Hauptgedanke: „Bloß weg, damit Tymofii das nicht mehr sieht!“ Also raus aus Kyjiw, nach Westen. Die Todesangst holt sie an der Grenze ein. Nicht um sich, um Tymofeii. Er ist Diabetiker Typ 1, braucht Insulin, aber auch Glukose. Doch woher nehmen? Alle Läden leer, keine Verpflegung, kein Saft, nichts. Gefangen im Stau und die anderen haben auch nichts. Nach 82 Stunden hinterm Lenkrad endet die Flucht. „Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Berlin gekommen bin.“

Seit zwei Jahren lebt Katja hier, hat an der VHS Berlin-Lichtenberg den Integrationskurs besucht, spricht sehr gut Deutsch auf B2-Niveau und ist dabei, das höhere C1 zu absolvieren, Voraussetzung, um in ihrem Fach zu arbeiten. Für eine Firma aus Odessa hat sie IT-Systeme für Logistik und Buchhaltung in der Gastronomie entwickelt und verkauft.

Ihr Sohn Tymofii, ein schmaler Junge mit klugem Gesicht, hat eine Diabetesberaterin, geht in die 5. Klasse, spricht fast so gut Deutsch wie Berliner Jungs und spielt im Fußballverein. Es gibt einen neuen Freundeskreis, in Charlottenburg haben sie eine Einzimmerwohnung. „Am Ku’damm“, sagt Katja. Es ist ihr fast peinlich. Russen haben ihr geholfen, Deutsche, Menschen aus der Ukraine. Wer sie sieht, mit Mantel und Rucksack, sieht eine Berliner Frau, keine Geflüchtete.

Tief im Land der „Blauen“

Wie sehr unterscheidet sich die Berlinerin von der Frau von früher? Katjas Blick geht nach innen. Es ist auch eine Reise, doch sie beginnt nicht im Februar 2022, sondern viel früher. Katja, 1983 geboren, wächst in Nikopol auf, einer Stadt mit 120.000 Einwohnern weit im Osten am Dnipro. Von Nikopol aus kann man am anderen Ufer das Atomkraftwerk Saporischschja sehen, das, wie die gesamte Region, seit fast zwei Jahren russisch besetzt ist.

Der Osten ist lange fest in der Hand der „Partei der Regionen“, ihre Farbe ist blau. Sie steht für Distanz zu Europa und Nähe zu Moskau. Auch für Katja ist sie der politische Kompass. Abends flimmert im Wohnzimmer russisches Fernsehen.

Erst als sie zum Studium nach Kyjiw kommt, merkt sie, wie groß die Kluft ist zwischen Donbass und Karpaten, zwischen europäischer und russischer Identität, aber auch wie vielfältig das Land ist. In der Orange Revolution 2003/2004 steht sie schon auf der Seite des proeuropäischen Wiktor Juschtschenko. Er wird neuer Präsident. Doch er scheitert. „Die Menschen waren noch nicht bereit“, sagt Katja. Deswegen bekommen sie als neuen Präsidenten den „blauen“, korrupten Wiktor Janukowytsch.

Doch trotz Korruption boomt die Wirtschaft. Katja wird Vertreterin für die Nord- und West­ukra­ine. „Die Geschäfte liefen hervorragend.“ Und sie bereist die Welt – Arabische Emirate, Indonesien, Ägypten, Zypern. Es muss für sie wie ein Mauerfall gewesen sein, einer in Etappen. Die Menschen, die sie traf, waren anders, freier, selbstbewusster, kurz: weltoffener. Katja, die Karrierefrau, wünscht sich, dass alle Menschen in der Ukraine diese Erfahrungen machen, dass sie reisen.

Zur selben Zeit treibt Wladimir Putin Russland immer weiter in die Vergangenheit. Im Jahr 2012 steht Alexei Nawalny erstmals vor Gericht. Tymofii wird 2012 geboren und im Februar 2014 stürzen die Proteste auf dem Maidan den Präsidenten. Obwohl Katja alleinerziehend ist, ist sie dabei, jeden Tag. „Es war meine Pflicht.“ Zivilisten sterben auf dem Maidan, Janukowytsch flieht nach Russland.

Und der Krieg, der auf Geheiß Moskaus im Osten ausbricht? „Er war von Kyjiw weit weg.“ Bis August 2014. Da stirbt ein Freund, Mitglied einer Spezialeinheit, bei Ilowajsk. Die Schlacht ist der Wendepunkt. Offen kämpfen russische Soldaten aufseiten der „Volksrepublik“. Die ukrainischen Truppen sind eingekesselt. Der von Putin ausgerufene „humanitäre Korridor“ wird für Hunderte zur Todesfalle. Auch für ihren Freund.

Eine Frau in Charkiw ahnt den große Krieg

„Putin wird die Ukraine nicht loslassen“, sagt Katja. Doch dass er deswegen eine große Invasion wagen würde? „Was redest du!“ Schroff fährt Katja im Januar 2022 in Charkiw eine Bekannte an, die von einem großen Krieg spricht. Katja fliegt im Februar nach Zypern, ohne Tymofii. Ihre Mutter hat sie inzwischen in die Hauptstadt geholt, im Vorort Irpin kauft sie ihr eine Wohnung. Wenige Tage vor dem Überfall lande[Link auf Beitrag 5487834 (MS-ID 5843277)] t Katja wieder in Kyjiw. „Was, wenn ich den Flug ein paar Tage später gebucht hätte?“ Für Wochen, vielleicht Monate hätte sie Tymofii nicht wiedergesehen. Wenn überhaupt. 19.000 ukrainische Kinder sollen seit dem Überfall nach Russland verschleppt worden sein.

Die nächste Reise führt beide nach Berlin. Die Mutter bleibt in Kyjiw. Nach Irpin war sie nie gezogen. Die Renovierung ihrer neuen Wohnung zog sich hin. Möglicherweise hat es das Leben ihrer Mutter gerettet. Im April 2022, nach Abzug der russischen Truppen, werden in Irpin, wie im benachbarten Butscha, die Leichen Hunderter Zivilisten entdeckt. Zur selben Zeit beginnt Katja in Berlin ihren Integrationskurs.

Der jetzige Kurs endet im Juni. Ihr Berater im Jobcenter zeigt Weitblick. Er fordert, dass Katja erst die C1-Prüfung ablegen soll. Dann sei sie für den Arbeitsmarkt gerüstet. Sie selbst hat weniger Geduld. „Mir ist das peinlich, dass ich nach zwei Jahren immer noch nicht arbeite.“ Mit ihrem Wissen für IT-Anwendungen fällt ihr reichlich Arbeit ins Auge, auch im Jobcenter. Kritisieren will sie die deutsche Vorliebe für Bedrucktes nicht. Es sind Prozesse, die sich eingeschliffen haben, sagt sie diplomatisch. Das zu ändern, dauere. Dass sie helfen will, ist klar.

Mehr als eine Millionen Menschen aus der Ukraine sind seit der Invasion nach Deutschland geflohen, darunter mehr als 700.000 Frauen, viele mit Kindern. Etwa 320.000 Flüchtlinge sind weitergezogen oder in die Ukraine zurückgekehrt. Solange der Krieg währt, für Katja keine Perspektive. Wenn überhaupt. „Je länger der Krieg dauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir bleiben.“ Die Deutschen hat sie als freundlich und hilfsbereit erfahren, Anfeindungen, die es auch gibt, hat sie nicht erlebt.

Und die Ukraine? Mit ihrer Mutter, die in der Ukraine bleiben will, kommuniziert sie regelmäßig, Nachrichten liest sie täglich. „Es schmerzt.“ Und keine Aussicht auf ein Ende. „Die Leute leben in Angst. Hier ist es ruhig.“ Sofern keine Hubschrauber kreisen.

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