Neuer Roman von Ulrich Peltzer: Das Tiefste, das in uns rumort

Ein Spielsüchtiger, der als Finanzberater tätig ist und im Knast Lyrik entdeckt: Ulrich Peltzers Roman „Der Ernst des Lebens“ ist furios wie glaubwürdig.

Eine junge Frau geht an einem Kino und einer Spielhalle vorbei

Kulturszene, Spielhalle – Peltzer bietet ein breit angelegtes Gesellschaftspanorama Foto: Lem/imago

Wer spricht da? Was will dieser Mann? Der Schriftsteller Ulrich Peltzer ist auf den ersten Blick kaum wiederzuerkennen. Da fängt einer an, in Ich-Form zu erzählen, und nennt sich „Bruno van Gelderen“, aber „erzählen“ ist womöglich das falsche Wort dafür. Es klingt alles so, als ob man am Ende einer Party in der Küche herumsteht, wenn sich der harte Kern sammelt, und einer hat gerade gefragt: He, Bruno, jetzt sag mal, wie war das damals eigentlich mit deinem Absturz und dem Knast?

Das scheint der richtige Moment zu sein, damit Bruno seine Karten endlich auf den Tisch legt. Der Ton ist locker, mündlich, Bruno fällt sich immer wieder selbst ins Wort. Doch dann merkt man ziemlich schnell: So spontan dahingeplaudert ist Brunos Geschichte gar nicht. Der Text ist genau gebaut, er hat eine hochreflektierte Form, und die Brüche, die Neuansätze, die Zeitverschiebungen und Perspektivwechsel knüpfen konsequent an frühere Romane des Autors an.

Peltzers Hauptfigur ist nach dem Abitur am Niederrhein Anfang der neunziger Jahre nach Berlin gekommen, weiß aber nicht so recht, worauf das hinausläuft. Bruno bricht ein Politikstudium an der FU ab und landet bei einer Konzertagentur.

Die Umstände des Pop-Business werden pointiert geschildert – die Sonderwünsche der Künstler etwa (Mineralwasser aus Gletschereis oder peruanischer Schnaps), die dann aber unangetastet in der Garderobe stehenbleiben, aber auch die Kneipen, die Beschaffung von Koks. Und dann beginnt Bruno auch noch, mit Spielautomaten, mit einarmigen Banditen ganz eigene Scharmützel auszufechten.

Ulrich Peltzer: „Der Ernst des Lebens“. Fischer, Frankfurt a. M. 2024, 300 Seiten, 24 Euro

Der Held bewegt sich zwischen Subkultur und halblegalen Grauzonen. Sich zu binden, wäre ihm fremd. Seine Abneigung gegen Festlegungen, Eheschließungen und vorgegebene Berufe zieht sich durch das ganze Buch. Damit steht er für eine eigene Berlin-Boheme, die Ulrich Peltzer seit jeher im Blickfeld hatte.

Prekäre Jobs

Die Figuren dieses Autors schlugen sich schon immer mit prekären Jobs oder riskanten Projekten durch, jedes Mal unter Berücksichtigung der finanziellen Bedingungen und Zwänge, unter denen dies stattfindet – das unterscheidet Peltzers Bücher von den meisten Gegenwartstexten über Berlin, bei denen die Väter der Protagonisten ihnen im Zweifelsfall eine Eigentumswohnung gekauft haben.

Peltzers Figur Bruno fällt im Gegensatz zu einigen seiner früheren Protagonisten dadurch auf, dass er eine Generation jünger ist als der 1956 geborene Schriftsteller. Das eröffnet ein ganz eigenes Spielfeld. Es geht um andere Zeiterfahrungen, es gibt eine objektivierende Distanz, aber zugleich können biografische Fragestellungen, die auch die des Autors sind, in einem anderen Licht gezeigt werden.

Das Verfahren ist dasselbe wie in Peltzers letztem Roman „Das bist du“ von 2021, dessen autobiografische Grundlage unverkennbar war. Auch Brunos zentrale Lebensstationen werden nicht chronologisch erzählt, sondern geraten in einem unberechenbaren Erinnerungsstrom wild durcheinander. Gerade das schafft ein neues, nur ästhetisch zu fassendes Feld.

Bestimmte Szenen wiederholen sich und erscheinen in den einzelnen Sequenzen in einem immer schärferen Licht. „Klarheit“ ist einer der Lieblingsbegriffe Brunos, dahin will er vorstoßen. Durch einzelne, kleine Fragmente entsteht im Lauf des Romans ein großes Mosaik, das, indem es einige Fragen beantwortet, auch jedes Mal neue Fragen aufwirft. Eine der wesentlichen davon ist: „Kann man sich wirklich nahekommen, über eine gewisse Schwelle hinaus?“

Szenen der Kindheit

Dreh- und Angelpunkt in Brunos Rückblick ist sein kompletter Absturz während der Zeit in der Konzertagentur: Spielautomaten, Speed, Alkohol und Koks. Es wird ihm gekündigt, er verprasst sein ganzes Geld, und schließlich bringen ihn zwei dilettantische Überfälle ins Gefängnis. Es gibt furiose Milieuschilderungen und Personenskizzen, allein das Porträt eines Bühnentechnikers namens „Snowfoot“ alias Rudi Felske könnte den Stoff für etliche Serienfolgen liefern.

Durch die einzelnen Textblöcke setzt sich allmählich das Leben der Hauptfigur zusammen – assoziativ werden Szenen der Kindheit, das Berliner Laisser-faire, der Knast und die Gegenwart miteinander verbunden.

Der Gefängnisaufenthalt ist die Zäsur, danach geht Bruno Tätigkeiten nach, die sich, schon von Anfang an, als irisierende und spannungsverstärkende Momente durch den Roman ziehen: Zunächst schreibt er Artikel für das Fußball-Echo, danach arbeitet er bei einem undurchsichtigen, aber durchaus sympathischen Georgier bei „Merkur Invest“, einer Finanzberatung für Mittelständler, die bereits einiges an ruhendem Kapital auf die Seite geschafft haben.

Peltzer hat genau recherchiert, allein ein Sujet wie das Fußball-Echo, das von sämtlichen Spielen in Berlin unterhalb der Regionalliga Berichte liefert, ist in seiner Ernsthaftigkeit und Bizarrerie faszinierend. Bruno lernt den Finanzaktivisten Guram Kobiashvili auch ausgerechnet beim Fußball kennen, der Georgier agiert als Sponsor bei „Grün-Weiß“. Welche Absichten dahinterstecken, ist nur zu erahnen. Aber es gibt sicher welche.

Sozialstudie mit satirischen Zügen

Die Klientel, mit der es Bruno bei „Merkur Invest“ zu tun bekommt, verbreitert das großangelegte Gesellschaftspanorama dieses Romans noch einmal erheblich. So will ein baden-württembergischer Chemieunternehmer seine Tochter mit Bruno verkuppeln, und das liefert einerseits Material für eine brillante Sozialstudie, hat andererseits aber auch satirische Züge.

Dabei wirkt jede Person in sich glaubwürdig und erschöpft sich nicht in vordergründigen Effekten. Als Bruno seinen Lebensbericht abliefert, hat er bei „Merkur Invest“ gekündigt und sich in eine Videokünstlerin in Köln verliebt. Was es heißt, „gut mit sich zurechtzukommen“ – eine seiner Grundfragen –, das stellt sich immer wieder anders dar.

Auffällig an Peltzers bestechendem Text sind die Spiegelungen, die erhellenden Korrespondenzen. Zwischen der Spielsucht des Protagonisten und seiner Tätigkeit bei „Merkur Invest“ gibt es automatisch einen Zusammenhang. Die Wetten im Umfeld des Fußball-Echo passen dazu sehr gut, und die Überlegungen zum Kunstbetrieb in der Gegenwart schließen unmittelbar daran an. Dass der Roman bei alldem „Der Ernst des Lebens“ heißt, kommt nicht von ungefähr.

Bruno scheint es im Nachhinein so, als sei er „fortwährend auf der Flucht gewesen, ein Mysterium, wovor eigentlich“, sein Leben lang habe er das Gefühl gehabt, „in einen fremden Traum hineingeraten“ zu sein. Da hilft es, erst mal alles aufzuschreiben: „Ich bin kein Psychologe, ich beobachte nur.“

In der Figur des Bruno, in seinem Sichtreibenlassen verbindet sich eine individuelle Charakterzeichnung mit einer komplexen Gesellschaftsanalyse. So etwas gibt es heute sehr selten. Es ist kein Zufall, dass Bruno während seiner Zeit im Knast beginnt, in der Gefängnisbibliothek Bücher auszuleihen. Zu seiner großen Verblüffung hat es ihm besonders die Lyrik angetan. Da muss er sich gleich vor sich selbst rechtfertigen: „Wer jetzt sagt, dass Antibiotika und Herzklappen aus Plastik solche Dichtungen überflüssig gemacht hätten, weiß nicht, wovon er redet. Verdrängt das Tiefste, das in uns rumort, seitdem wir von den Bäumen runtergestiegen sind.“

Genau das ist es, was den „Ernst des Lebens“ ausmacht. Bei aller Situationskomik ist dies auch ein abgründiges Buch. Denn es weiß mehr, als sein Ich-Erzähler ahnt. An diesem Punkt fängt die Literatur an. Am besten, man liest den Roman gleich nochmal von vorn.

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