Ärzte-Protest am Maßregelvollzug: Es brodelt hinter den hohen Mauern

Das System ist kaputt und macht kaputt: Ärz­t*in­nen und Pfle­ge­r*in­nen haben in ihrer Mittagspause gegen die desaströsen Zustände im Maßregelvollzug demonstriert.

Menschen stehen beieinander und demonstrieren

Chefarzt mit Megafon: Sven Reiners spricht zur Belegschaft vor dem Krankenhaus des Maßregelvollzugs in Berlin-Reinickendorf Foto: Hanno Fleckenstein

BERLIN taz | Am Ende ist es doch so voll geworden, dass Sven Reiners das Megafon braucht: Mit orangefarbenem Gewerkschaftskäppi auf dem Kopf steht der Arzt vor etwa 60 Menschen. Viele von ihnen tragen wie Reiners die knallige Kappe des Marburger Bunds und haben Plakate, Trillerpfeifen und Klatschfächer mitgebracht.

Sie alle arbeiten im Krankenhaus des Maßregelvollzugs und protestieren vor dessen Backsteinmauern in ihrer Mittagspause gegen die katastrophalen Zustände in der Einrichtung für psychisch erkrankte und suchtkranke Straf­tä­te­r*in­nen.

„Wir setzen uns jeden Tag einer brenzligen Lage aus. Das kann so nicht weitergehen, wir brauchen sofort Unterstützung – heute!“, ruft Sven Reiners, der ärztliche Leiter, unter Beifall und gellenden Pfiffen. Er zeigt sich ernüchtert. Bereits mehrfach haben die Belegschaft und die Berliner Ärztekammer Brandbriefe an den Senat verfasst: „Bis heute haben wir keine Antwort bekommen – das ist enttäuschend!“

Gewalt und Bedrohungen gehören zum Alltag

Es brodelt seit Langem hinter den hohen Zäunen des Berliner Maßregelvollzugs. Eine immer weiter steigende Zahl an Pa­ti­en­t*in­nen wird von viel zu wenig Personal auf viel zu engem Raum betreut. Gewalt und Bedrohungen sind für die Pa­ti­en­t*in­nen und die Beschäftigten Alltag.

Das System ist kaputt und macht kaputt – und zwar alle, die drin stecken. Erst vor Kurzem haben Pa­ti­en­t*in­nen und ihre Angehörigen auf einer Demonstration das Desaster in dem Krankenhaus angeprangert. Nun protestiert die Belegschaft, die völlig am Ende ist, wie auch der permanent hohe Krankenstand zeigt. „Menschenunwürdig“ sei die Situation, heißt es von Ärz­t*in­nen wie von Patient*innen.

„Es droht der Kollaps“

Als Arzt sei es frustrierend, die Pa­ti­en­t*in­nen nicht angemessen behandeln zu können, beklagt Peter Bobbert, der Vorsitzende des Marburger Bunds in Berlin und Brandenburg. Auch er hält an diesem Mittwochmittag eine Megafon-Ansprache. „Wir treten mit einem Berufsethos an, und das können wir nicht erfüllen.“ Bobbert warnt vor dem „Kollaps eines ganzen Krankenhauses“ und stellt klar, dass sich unter diesen Umständen kein neues Personal gewinnen lässt.

Von der schwarz-roten Koalition und insbesondere von Gesundheitssenatorin Ina Czyborra (SPD) fordert der Gewerkschafter, sofort die Forensikpauschale für die Beschäftigten zu erhöhen – allein, um die jetzigen Mit­ar­bei­te­r*in­nen zu halten. Außerdem verlangt Bobbert Klarheit darüber, wann und wo neue Betten geschaffen werden.

Geld ist nicht alles

Czyborra hat versprochen, dass noch in diesem Jahr 50 zusätzliche Plätze in einem ehemaligen Abschiebeknast in Lichtenrade in Betrieb gehen. Das klingt vielversprechend, aber die Belegschaft, die sich in ihrer Mittagspause rund um das Coffeebike der Gewerkschaft drängt, ist skeptisch.

Die Außenstelle liege viel zu weit von den anderen Standorten in Buch und Reinickendorf weg, erklärt eine Pflegerin, die trotz Urlaub zu der Demo gekommen ist. Das sei in Notsituationen fatal – dann komme keine schnelle Unterstützung von einer anderen Station. „Wir werden dort verheizt“, befürchtet die Pflegerin, die seit 40 Jahren im Maßregelvollzug arbeitet.

Ob da mehr Gehalt helfen würde? Ihr Kollege winkt ab. „Geld ist eine Sache. Aber die Arbeitsbedingungen sind viel wichtiger: Stress, Gewalt – das sind alles keine guten Voraussetzungen, um gesunden zu können. Damit wird ein Grundsatz der Pflege missachtet.“ Kündigen wollen die beiden trotzdem nicht. „Wir arbeiten mit dem Ansporn, etwas Gutes zu tun.“

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