Friedensaktivist Jürgen Grässlin: Flucht in die Utopie

Seit Beginn des Ukrainekriegs wirkt der Pazifismus aus der Zeit gefallen. Der Aktivist Jürgen Grässlin kündigt ein Netzwerk „für positive Nachrichten“ an.

Der Liedernacher Konstantin Wecker sitzt neben dem Rüstungsgegner Jürgen Grässlin an einem Tisch, vor ihnen liegen Bücher, die Grässlin geschrieben hat

Jürgen Grässlin (r.) mit Konstantin Wecker (l.) Foto: Thomas Kunz

Am Schluss singt der Saal unter Anleitung von Konstantin Wecker ein Lied von Hannes Wader: „Und sie haben uns damals genauso belogen, wie sie es heute immer noch tun …“ Ein pazifistischer Abend in Freiburg, kurz bevor die Ostermärsche wieder starten. Jürgen Grässlin und Liedermacher Konstantin Wecker, seit langem Freunde, haben zu einer Benefizveranstaltung zugunsten des Rüstungsinformationsbüros eingeladen, das Jürgen Grässlin vor Jahren gegründet hat. 900 kostenlose Karten waren im Nu verteilt, es wären noch ein paar hundert mehr weggegangen, sagt der Veranstalter.

Jürgen Grässlin ist eine der wichtigsten Galionsfiguren des deutschen Pazifismus. Er hat die Tricks der deutschen Rüstungsindustrie in 18 Büchern aufgedeckt, sich mit Waffenfirmen wie SIG Sauer und Heckler & Koch angelegt. 30 Prozesse wurden gegen ihn geführt, er habe sie alle gewonnen, sagt er. Und das alles neben seinem Brotjob als Realschullehrer an einer Freiburger Schule. Wenn jemand wie er und Konstantin Wecker hier gegen Krieg auf- und eintreten, strömt das Publikum herbei, das mehrheitlich schon lange das wehrpflichtige Alter hinter sich hat.

Hier und da sind Friedensbuttons und Solidaritätsschilder mit Julian Assange zu sehen und auch ein Palästinensertuch. Jürgen Grässlin trägt ein regenbogenfarbenes Hemd unter dem Jackett. Den halben Abend lang erzählt er auf der Bühne aus seinem bewegten Aktivistenleben: Wie er Daimler dazu gebracht hat, sich von seinem Rüstungsgeschäften zu trennen und wie er als Erster eine Verurteilung von Heckler & Koch wegen illegalen Waffenhandels erreicht hat. Dass er nach Somalia und Kurdistan gereist ist, um den Opfern deutscher G3-Sturmgewehre eine Stimme zu gegeben.

Große Erfolge zweifellos, aber es ist auch ziemlich viel Bewunderung für sich selbst bei diesen Heldenerzählungen dabei. Und ziemlich wenig, was helfen könnte, in einer Zeit, in dem der größte Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg tobt und Aggressoren dabei sind, die Welt neu zu ordnen.

Kriege werden aus Sicht von Grässlin alle aus einem Grund geführt: weil Menschen an Waffen verdienen

Grässlin hat seit dem Überfall auf die Ukraine auf Ostermärschen und Demonstrationen Land auf, Land ab geredet. Er brandmarkt diesen Angriffskrieg, nennt ihn ein Verbrechen, ohne Frage. Aber er ist für ihn halt nur einer in einer Reihe von schrecklichen Kriegen, die er seit 40 Jahren beobachtet. Kriege, die aus seiner Sicht alle aus einem Grund geführt werden: weil es die Waffen dafür gibt und Menschen, die daran verdienen.

Er hat sich für Friedensverhandlungen mit Russland ausgesprochen, sich aber gerade noch rechtzeitig von der Unterstützung von Alice Schwarzers und Sahra Wagenknechts Friedensbewegung distanziert, als deutlich wurde, dass dort auch Rechte mitlaufen. Er wurde über die beiden Kriegsjahre immer vorsichtiger damit, den Ukrainern Ratschläge zu geben. Aber er bleibt dabei, er hätte sich dort mehr zivilen Ungehorsam gewünscht: weiß gekleidete Menschen etwa, die sich unbewaffnet Panzern entgegenstellen. Das würde weniger Opfer kosten und weniger Zerstörung bringen, sagt er. Grässlin verweist dabei auf die Studien der amerikanischen Politologin Erica Chenoweth, die herausgefunden hat, dass in den vergangenen 100 Jahren gewaltloser Widerstand der erfolgreichere war. Die allerdings auch sagt, dass ihr Erfolg in den vergangenen 30 Jahren abgenommen hat.

Die Welt passt diesen Abend in einen Hasenstall

Aber all diese Fragen kommen an diesem Abend höchstens am Rande vor. Irgendwie scheint die Welt in Freiburg an diesem Abend in einen Hasenstall zu passen. Das Motto: Frieden ist möglich, wenn es nur alle wollen. Grässlin präsentiert seine neuen Projekte: ein globales Netz für Friedenslieder, für das Konstantin Wecker als Schirmherr fungiert, und VibeWe, ein im Aufbau befindliches Netzwerk für „positive Nachrichten und schöne Gedanken, erholsame Abende“. Weil er gemeinsam mit Konstantin Wecker an einem Mutmachbuch sitzt, nimmt er kaum Termine wahr und ist auch nicht bei den Ostermärschen dabei.

Seltsam unpolitisch das alles, merkwürdig weltabgewandt. Grässlin hat keine aktuellen Recherchen zu präsentieren, wie etwa Embargo-Verletzungen deutscher Rüstungsunternehmen nach Russland. Er hat keine russischen Friedensaktivisten im Exil eingeladen, die berichten, wie es ist, im Putinstaat Widerstand zu leisten, wo man weder Politiker noch Rüstungsunternehmen vor Gericht bringen kann. Da ist niemand aus der Ukraine auf der Bühne, der vielleicht mit seinen Ideen zur zivilen Konfliktlösung sympathisiert oder mit dem Friedensaktivisten einen kritischen Dialog darüber führt. Grässlin, Wecker und die 900 Gerechten im Paulus-Saal genügen sich selbst.

Jürgen Grässlin bekennt, er schaue keine Nachrichten mehr, weil er genug habe von Bildern von explodierenden Häusern in Gaza und Kommentaren darüber, es seien Hamas-Kämpfer „unschädlich gemacht“ worden, während die zivilen Opfer unerwähnt blieben. Immerhin markiert er die Hamas unmissverständlich als Terrororganisation, auf die man eine Antwort finden müsse.

Einem Künstler wie Konstantin Wecker verzeiht man die Flucht in Wunschdenken und die Utopie und den Rückblick auf das Lebenswerk, zumal mit 75. Aber wenn sich einer der wirksamsten Friedensaktivisten der vergangenen Jahrzehnte in so einer Zeit von der Welt abwendet, fragt man sich schon: Ist die Lage so aussichtslos? Oder müsste Jürgen Grässlin eigentlich zu­geben, mit seinem pazifistischen Ansatz am Ende zu sein?

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