Angriff auf Hilfskonvoi in Gaza: „Katastrophe ist menschengemacht“

Die israelische Armee hat einen Hilfskonvoi in Gaza beschossen. Riad Othman von Medico International spricht von einem gezielten Angriff.

Luftaufnahme, die zeigt einen mit Lebensmitteln beladenen Lastkahn an dem links und rechts zwei rote Motorboote ankommen

Langwierig und uneffektiv: Ein mit Lebensmitteln beladener Lastkahn der World Central Kitchen kommt vor der Küste von Gaza an Foto: Israel Defense Forces/reuters

wochentaz: Herr Othman, Israel hat nach einem Gespräch mit US-Präsident Joe Biden angekündigt, nun endlich den nördlichen Erez-Übergang nach Gaza für Hilfslieferungen zu öffnen, außerdem sollen mehr Güter durch den Kerem-Schalom-Übergang kommen.

Riad Othman: Die Entscheidung geht in die richtige Richtung. Aber die Sinnhaftigkeit solcher Entscheidungen steht und fällt natürlich damit, wie viele Lastwagenladungen tatsächlich täglich über jeden Übergang abgewickelt werden. Und das ist die Krux. Es gab ja völlig erratische Zulassungskriterien; ganze Lastwagenladungen wurden zurückgeschickt, und anders als die israelische Armee behauptet, kamen nicht genügend Ladungen rein und deren Verteilung konnte aufgrund von Zugangsbeschränkungen wegen der Sicherheitslage teilweise nicht gewährleistet werden. Die Entscheidung, Erez zu öffnen, ist kein Selbstläufer, solange die Amerikaner nicht mit entsprechendem Druck festgelegt haben, wie viele Ladungen an humanitärer Hilfe Israel hineinlassen muss. Der Teufel steckt auch hier im Detail.

Jahrgang 1976, ist seit 2016 Nahost­referent für die Menschenrechtsorganisation Medico International in Berlin. Davor war er Medico-Büroleiter in Israel und Palästina.

US-Präsident Biden hatte das Gespräch mit dem israelischen Premier Benjamin Netanjahu wegen eines Angriffs auf einen Konvoi der Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK) anberaumt. Sieben internationale Mit­ar­bei­te­r*in­nen der WCK wurden bei dem Angriff getötet. Wie haben Sie diesen Vorfall aufgenommen?

In meinen Augen ist das eine Fortsetzung der Politik, die wir in den letzten Monaten gesehen haben: Israel greift humanitäre Strukturen, Gesundheitseinrichtungen, Ambulanzen systematisch an; humanitäre Hilfe wird entgegen dem Völkerrecht systematisch vorenthalten oder zumindest nicht in ausreichendem Maße zugelassen. Das lässt sich auch festmachen an der Zahl von Hunderten Mit­ar­bei­te­r*in­nen des Gesundheitssektors, die seit dem 7. Oktober in Gaza getötet wurden. Alleine bei der UNRWA sind das bislang 176. Viele dieser Fälle sind nicht mit der Präsenz der Hamas oder militanten Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen zu rechtfertigen.

Kann man denn Hamas-Präsenz in den Krankenhäusern ausschließen?

Wenn eine Armee systematisch eigentlich alle Krankenhäuser in Gaza so schwer beschädigt oder zerstört, dass am Ende nur noch 10 von 36 in Teilen funktional sind; wenn auch einfachere Gesundheitszentren zerstört worden sind, dann liegt meines Erachtens nach den 412 Angriffen seit dem 7. Oktober ein systematisches Vorgehen zugrunde. Im selben Zeitraum hat es im Westjordanland übrigens 450 Übergriffe auf Gesundheitseinrichtungen und Ambulanzen oder Angriffe auf diese gegeben, die sich nicht mit dem Krieg rechtfertigen lassen.

Halten Sie den Angriff auf den Konvoi von WCK auch für einen gezielten?

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

In den Medien ist öfter von „einem Luftangriff“ die Rede. Man erkennt aber aus den Geodaten der Bilder, dass die drei Fahrzeuge der WCK über eine Strecke von 2,5 Kilometern gezielt angegriffen wurden. Zuerst wurde ein Fahrzeug getroffen. Dann etwa 800 Meter weiter das zweite, in das Überlebende aus dem ersten verfrachtet worden waren. Das dritte Fahrzeug wurde dann nochmal 1,6 Kilometer weiter südlich angegriffen. Da kann man nicht mehr von einem Versehen sprechen.

WCK hat ihre Mitarbeiter nach dem Angriff aus Gaza abgezogen.

Abziehen klingt so endgültig. Meines Erachtens suspendieren sie vorübergehend ihre Arbeit genauso wie andere Organisationen, etwa Project Hope, bis geklärt ist, wie denn in Zukunft sichergestellt werden kann, dass keine humanitären Helferinnen und Helfer mehr angegriffen werden.

Wie kann ihre Sicherheit denn sichergestellt werden?

Ich glaube, bei der Art der Kriegsführung kann nicht wirklich ausgeschlossen werden, dass so etwas nochmal passiert. Nicht bei dem Vorgehen und nicht bei der Bevölkerungsdichte. Das kann eigentlich nur geschehen, indem es endlich eine Waffenruhe gibt.

Allerdings scheint die Hamas auch ihre zivilen Opfer in Kauf zu nehmen.

Ja, das stimmt. Doch die Hamas allein für alles verantwortlich zu machen, was in Gaza passiert, ist eben auch falsch. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, Karim Khan, war da ganz klar: Auch wenn die Hamas sich inmitten von Zivilbevölkerung aufhält oder geschützte Einrichtungen missbraucht, gelten weiterhin die Regeln des Internationalen Rechts, und da trägt die prinzipielle Verantwortung die Partei im Konflikt, die den Abzug drückt. Hamas andererseits trägt die Verantwortung für das, was am 7. Oktober geschehen ist, für die ermordeten Zi­vi­lis­t*in­nen und die Geiseln. Auch für den unterschiedslosen Beschuss israelischer Städte mit Raketen. Das sind auch Kriegsverbrechen und für die wird sich die Hamas zu verantworten haben.

Hilfsorganisationen – wie auch Medico – warnen nach wie vor, dass Gaza kurz vor einer Hungersnot steht.

Ja. Laut IPC, einem international anerkannten Instrument zur Feststellung von Hungerkrisen, befinden sich eineinhalb Millionen Menschen in den zwei höchsten Stufen des Warnsystems für die Hungersnot – vor allem im Norden von Gaza, den die israelische Armee kontrolliert. Weitere knapp 600.000 Menschen befinden sich auf Stufe drei, also bereits in einer schweren Krise. Es gibt vor allem unter kleinen Kindern bereits einige Hungertote. Die Menschen sterben ja oft nicht direkt durch die Einwirkung des Hungers, sondern durch Infektionskrankheiten, mit denen der Körper unter normalen Umständen fertig werden würde.


Droht mit dem Rückzug von WCK und anderen Hilfsorganisationen aus Gaza eine weitere Verschärfung der Situation?

Ich halte die Auswirkungen auf die humanitäre Lage in Gaza für vernachlässigenswert. Die Mengen, die WCK über den Seekorridor umsetzen kann, sind sehr gering im Vergleich zu dem, was über Land reinkommen könnte. WCK hat eine wichtige Aufgabe übernommen in einer Situation, in der Hilfsorganisationen die Wahl zwischen Pest und Cholera hatten. Sie haben sich dazu bereit erklärt, bei dem Seekorridor mitzumachen, den andere Hilfsorganisationen, die schon lange in Gaza arbeiten, zu Recht kritisiert haben.

Wieso zu Recht?

Es war beispielsweise nicht klar, wie die Verteilung laufen soll. WCK hatte ja keine Verteilungsstruktur, die irgendwie vergleichbar wäre mit dem, was lokale, palästinensische Organisationen und vor allem die UNRWA dort seit Jahrzehnten aufgebaut haben. Das Hauptproblem aber ist, dass auch mit diesem maritimen Korridor die Hilfslieferungen nach Gaza völlig unzureichend bleiben. Da muss man einfach mal rechnen: Wie lange braucht ein Schiff mit 240 Tonnen Hilfsgütern von Zypern an die Küste von Gaza? Wie lange braucht die Entladung auf diesem schwimmenden Pier, wenn er denn mal fertig ist? Wie lange braucht es dann, um die Lieferungen in die flachen Küstengewässer von Gaza zu bringen? Zum Vergleich: Ein Lkw allein kann mindestens 27 Tonnen laden. Zehn Lkws könnten also auf einfachem Weg liefern, was als Ladung per Schiff viel länger unterwegs ist und mehrfach umgeladen werden müsste.

Würden Sie sagen, die Lieferung per Schiff hätte nicht erfolgen sollen?

Nein, ich sage, dass das Vorgehen Irrsinn ist. Die humanitäre Katastrophe in Gaza ist rein menschengemacht, und um die zu beheben, braucht es keinen Seekorridor, sondern den Zugang über Land – der ja prinzipiell möglich ist. Luftabwürfe oder auch ein Seekorridor – das sind wirklich Mittel der allerletzten Wahl. Ich habe als humanitärer Helfer ein einziges Mal Luftabwürfe erlebt, das war nach dem Erdbeben in Pakistan 2005, als ganze Berghänge abgerutscht waren und in den ersten Tagen selbst mit Maultieren kaum Hilfe in die Bergdörfer gelangen konnte. Da hat eine Naturkatastrophe den Zugang verhindert. Aber das ist hier nicht so. Hier verhindert – bislang – eine Armee auf Anordnung ihrer Regierung den Zugang und wird dabei noch mit Waffen aus den USA und der Bundesrepublik beliefert. Das ist inakzeptabel.

Was fordern Sie als Medico von der deutschen Regierung?

Unter den gegebenen Umständen, mit weithin tatsächlich zum Teil durch israelische Streitkräfte selbst dokumentierten Kriegsverbrechen in Gaza, wäre es geboten, Waffenlieferungen umgehend einzustellen. Dabei geht es nicht um Munition für den Raketenschild, sondern um kriegstaugliche Waffenlieferungen. Die Bundesregierung sollte die eigenen Verpflichtungen nach internationalem Recht endlich wahrnehmen

… Sie meinen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Drittstaaten zu verhindern?

Ja, laut ihren Verpflichtungen nach Genfer Konvention und Römischem Statut. Und: Deutschland sollte Druck auf die israelische Regierung ausüben, dass auch sie sich an internationales Recht halten muss. Und das geht eigentlich nur mit einer Waffenruhe beziehungsweise dann auch einem Waffenstillstand.

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