Roma in der EU und europäischen Politik: Viele Stimmen, wenig Gehör

Die Betroffenheit durch Diskriminierung eint alle Roma in Europa. Sie haben kaum eine politische Lobby. Wie könnte sich die Situation verbessern?

Romeo Franz steht im Plenarsaal des Europäischen Parlaments am Rednerpult

Romeo Franz vom Bündnis 90/Die Grünen im Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg: Er ist der erste Sinto-Abgeordnete Foto: Christoph Hardt/imago

BERLIN taz | Eigentlich sollte es für Romeo Franz keinen Zweifel geben. Er ist anerkannter Musiker, Buchautor und seit 2018 Abgeordneter der Grünen im EU-Parlament, in Kaiserslautern geboren und in Rheinland-Pfalz aufgewachsen. Doch als Franz Mitte März bei einer Lesung im Rahmen der Leipziger Buchmesse seine Familienbiografie vorstellt, sagt er Sätze, die verdeutlichen, wie viel nicht selbstverständlich ist.

„Dies ist meine Heimat. Und die lasse ich mir von niemandem nehmen“, erklärt er dem Publikum. Sein Stammbaum gehe Jahrhunderte zurück, seine Verwandten seien in Deutschland begraben. Franz betont das, als müsse er sich rechtfertigen. Als sei er erst kürzlich in die Bundesrepublik migriert. Doch so ist es keineswegs. Romeo Franz ist Deutscher und der erste Sinto im Europäischen Parlament.

In Deutschland und Europa wird keine Gruppe so stark diskriminiert wie Sinti und Roma. Fast alle in der Mehrheitsgesellschaft kennen gängige Stereotype, zu viele wissen nur wenig über die echten Lebensrealitäten. Dabei sind Sinti und Roma seit 1995 in Deutschland eine von vier anerkannten „nationalen Minderheiten“ und in allen EU-Ländern vertreten. Würde eine europäische Roma-Partei helfen, sie stärker zu repräsentieren?

Eine sehr heterogene Minderheit

Wenige Stunden vor seiner Lesung sitzt Romeo Franz in der Lobby eines Hotels in der Leipziger Innenstadt und nimmt sich Zeit, Fragen zu beantworten. „Sinti, Roma und die anderen Romanes-sprachigen Gruppen sind eine sehr heterogene Minderheit, und auch politisch heterogen“, sagt Franz. Es gibt die Kalé in Spanien und Portugal, die Romanichals in Großbritannien, Manouches und Sinti in Frankreich, Resande in Schweden, und bei den Roma in Osteuropa die Lovara, die Kelderara, die Boyasch und viele mehr. Eigene Vorstellungen, eigene Traditionen, rund 200 Dialekte der Sprache Romanes.

Eine europäische Roma-Partei? „Das würde nicht funktionieren“, sagt Franz. Auch gegenüber Juden gebe es oft die Vorstellung, sie müssten mit einer Stimme sprechen.

Dabei gab und gibt es Versuche von Vereinigungen und Organisierungen, in Deutschland, in Europa, weltweit. Am 8. April 1971 kamen nahe London Vertreter der Minderheit aus ganz Europa zum ersten „Welt-Roma-Kongress“ zusammen. Sie einigten sich auf eine Flagge, den Oberbegriff „Roma“ und den gemeinsamen Kampf für ihre Rechte. Der 8. April steht seit 1990 als „Internationaler Tag der Roma“ für die Erinnerung an dieses Ereignis.

In Deutschland steht seit 1982 vor allem der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mit seinem langjährigen Vorsitzenden Romani Rose für die Rechte der Minderheit ein. Erst ein Hungerstreik Roses und elf weiterer Sinti auf dem Gelände der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Dachau im Jahr 1980 hatte eine politische Diskussion über eine Anerkennung des NS-Völkermords an den europäischen Sinti und Roma in Gang gebracht, die 1982 kam.

„European Roma and Travellers Forum“ beim Europarat

Auf europäischer Ebene gründete sich 2004 das „European Roma and Travellers Forum“, das schon ein Jahr später als permanente Roma-Vertretung dem Europarat angegliedert wurde. Langjähriger Präsident des Forums war Rudko Kawczynski aus Hamburg.

Er hatte bereits 1989 als Spitzenkandidat der Grünen für das EU-Parlament kandidiert – symbolisch, denn wählbar war er nicht. Der in Polen geboren Kawczynski lebte zwar fast sein ganzes Leben in Deutschland, war aber sogenannter „Staatenloser mit Fremdenpass“. Nur Staatsangehörige durften kandidieren. Mit der Aufstellung Kawczynskis wollten die Grünen gegen die Diskriminierung ein Zeichen setzen.

Der EU-Abgeordnete Franz kommt aus einer Musikerfamilie, seit 1991 geht er mit dem eigenen Ensemble auf Tour. Die Melodie, die für Be­su­che­r*in­nen des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin heute erklingt, hat Franz komponiert.

Im März 2024 erschien von Romeo Franz und Co-Autorin Alexandra Senfft das Buch: „Großonkel Pauls Geigenbogen, Familiengeschichte eines preußischen Sinto“ im Goldmann Verlag.

Bei seiner Lesung erinnert er sich an einen Anruf Romani Roses, der ihm den Auftrag für die Melodie des Denkmals gab. Heute sind die beiden zerstritten. Vor zwei Jahren gründete sich die Bundesvereinigung der Sinti und Roma, Franz ist ihr Generalsekretär. Man wolle sich stärker partizipativ organisieren, Frauen und junge Menschen „gleichberechtigt und auf Augenhöhe“ mit einbeziehen. Den Zentralratsvorsitzende Rose ärgert die Konkurrenz, er sieht sein Vermächtnis in Gefahr.

Mehrere Dachverbände allein in Deutschland

Über den Streit von Rose und Franz bekommt man eine Ahnung, wie schwer eine politische Einigkeit allein in Deutschland sein kann. Neben der jüngeren Bundesvereinigung und dem Zentralrat gibt es als Dachverbände seit Jahren auch die Sinti Allianz, seit 2012 zudem den Bundes Roma Verband, der vornehmlich die Interessen von Roma vertritt, die nach Deutschland geflohen sind.

„Romani Rose hat große Verdienste“, sagt Franz trotz der Verwerfungen. „Auf dem Boden, den er bereitet hat, arbeite ich. Ohne ihn wäre ich kein Abgeordneter geworden.“ 1983, so erinnert sich Franz, sei er mit Rose auf seiner ersten Demo gewesen. Schwarz-Weiß-Fotos zeigen Rose vor dem Bundeskriminalamt in Wiesbaden mit einem großen Plakat vor der Brust.

Der Protest richtete sich gegen die Sondererfassung der Minderheit durch die Polizei. Die nationalsozialistische „Zigeunerpolizeistelle“ München war 1951 schlicht in „Landfahrerzentrale“ umbenannt worden. Laut Rose verabschiedeten die meisten Bundesländer in den 1950er Jahren sogenannte „Landfahrerordnungen“, die ein Sonderrecht gegen Sinti und Roma bedeuteten.

Noch heute haben „Landfahrer“ keinen Zutritt

Und heute? Weder das Thema der Demo vor dem Bundeskriminalamt noch der diskriminierende Begriff „Landfahrer“ hat sich erledigt. „Landfahrer sind nicht erwünscht“, heißt es so oder ähnlich noch Ende März in Campingplatz-Ordnungen in Ost- und Westdeutschland (Neuharlingersiel, Bruchmühlbach-Miesau, am Laascher See, in Dangast, Ückeritz oder am Clausensee).

Es gehe um „Personen, die ein Gewerbe ausüben wollen“, heißt es dazu auf Anfrage der taz. Der Begriff sei „nicht diskriminierend gemeint“ oder sei „seit Jahrzehnten gedanken- und kritiklos in die Ordnung übernommen“ worden. In Dangast, Bruchmühlbach-Miesau und Neuharlingersiel wurde die Platzordnung nun geändert.

Gegen das Landfahrer-Verbot auf Campingplätzen hatte Romani Rose bereits 1979 protestiert. Doch auch die Diskriminierung durch die Polizei bleibt eine unendliche Geschichte, ebenso in der Verwaltung. Eine Studie aus dem Jahr 2021 bescheinigte der Stadt Hannover, Roma systematisch diskriminiert zu haben.

Fatale Menschenrechtssituation für Roma in Europa

Auf EU-Ebene sieht die Lage nicht besser aus. Laut einer Erhebung der EU von 2022 leben 80 Prozent der Roma unterhalb der Armutsgrenze ihres Landes. Gegenüber einem EU-Durchschnitt von 12 Prozent befanden sich 63 Prozent der Roma weder in Beschäftigung noch in Bildung oder Ausbildung.

Ein recht genaues Bild von der Menschenrechtssituation der Roma in Europa bekommt man bei einem Gespräch mit den Ex­per­t*in­nen des European Roma Rights Center (ERRC), das sich seit Mitte der 1990er Jahre auch juristisch für die Rechte der Roma einsetzt. „Wir haben derzeit etwa 160 aktive Fälle in 16 Ländern“, sagt ERRC-Sprecher Jonathan Lee.

Die Hälfte davon beziehe sich auf Polizeigewalt. „Dann haben wir Fälle, in denen sich Wasserversorgungsunternehmen weigern, Roma-Häuser an die öffentliche Versorgung anzuschließen, oder Stromversorgungsunternehmen, die ganze Roma-Viertel kollektiv bestrafen, wenn einer seine Rechnung nicht bezahlt.“ Lee spricht von „rassistisch motivierter Armut“.

Romeo Franz beklagt Ignoranz europäischer Institutionen

Eine „Form der Apartheid“ nennt es der EU-Abgeordnete Franz. „In Ländern wie Bulgarien oder Rumänien ist der Umgang mit der Minderheit zum Teil menschenunwürdig. Es bräuchte mehr Druck, sagt Franz, eine Richtlinie auf europäischer Ebene, die für alle marginalisierten Minderheiten die gleichberechtigte Teilhabe gesetzlich verlangt. Die EU solle den Nationalstaaten Mittel andernfalls streichen können. Als EU-Abgeordneter habe er daran gearbeitet, doch dafür keine Mehrheit gefunden. „Das Europäische Parlament und die Kommission interessieren sich nicht wirklich für die Situation der Menschen mit Romanes-Hintergrund“, sagt Franz.

Dabei zählt die EU-Kommission die Probleme der Roma zu „Europas drängendsten Menschenrechtsfragen“. 2020 präsentierte die EU-Kommission einen „reformierten strategischen EU-Rahmen für die Roma mit einem umfassenden Drei-Säulen-Konzept“. Von 2005 bis 2015 wurde eine ganze „Roma-Dekade“ ausgerufen, der sich 12 EU-Länder anschlossen und die in den Bereichen Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsfürsorge und Wohnraum Verbesserungen schaffen sollte.

Franz’ Urteil dazu ist eindeutig: „Für kleine NGOs ist es fast unmöglich, an Mitteln aus Brüssel zu partizipieren. Die eigentlich positive Idee, etwas für die Gleichberechtigung der Roma in Europa zu tun, ist daran gescheitert, sie einzubeziehen.“

1986 kam der erste Rom ins Europäische Parlament

Der Nachholbedarf lässt sich auch bei der Repräsentation ablesen. Erster Rom im Europäischen Parlament war von 1986 bis 1999 Juan de Dios Ramírez Heredia von den spanischen Sozialdemokraten. 2004 zogen Lívia Járóka und Viktória Mohácsi aus Ungarn ein, 2014 Soraya Post aus Schweden und Damian Drăghici aus Rumänien sowie Romeo Franz 2018 aus Deutschland.

Auch sie waren sich politisch keineswegs einig: Als eine der ersten zwei Romnja im EU-Parlament ist Járóka ausgerechnet von Orbáns Fidesz. Mohácsi gehört wiederum zum liberalen Bund Freier Demokraten, Post ist Mitglied der Feministischen Initiative und Drăghici bei den rumänischen Sozialdemokraten.

Franz nennt Járóka eine „Orbán-Soldatin“. Mit ihr sei der Umgang bei Fidesz ähnlich wie mit den Roma in der rechten AUR in Rumänien, die ebenfalls einige Mitglieder aus der Roma-Community zählt: Rechtspopulistische Parteien pickten sich Leute heraus, um ­deren Stimmen zu bekommen, so Franz.

Roma sind demokratisch nicht repräsentiert

Was die Wählerstimmen von Roma angeht, sieht ERRC-Sprecher Lee noch weitere Probleme: Stimmen würden gekauft oder Roma-Wähler eingeschüchtert, damit sie für eine bestimmte Partei ihr Kreuz machen. Die Wahlbeteiligung von Roma sei in ganz Europa sehr gering. „Wenn das Überleben die Hauptsorge ist, steht die Wahl der einen oder anderen Anti-Roma-Partei nicht wirklich oben auf der Agenda“, sagt Lee. „Roma sind demokratisch in Europa schlicht nicht repräsentiert.“

Um die Probleme der Roma zu lösen, müsse man zunächst Rassismus als Grundursache identifizieren. Und dann? „Eine Polizeireform, den Bau von Sozialwohnungen, ein soziales Wohlfahrtsnetz, die Grundüberholung des lokalen Bildungswesens und eine Aufhebung der Segregation“, sagt Lee. Das würde den Rassismus nicht beenden, „aber die Bedingungen, unter denen er gedeihen kann“.

Sowohl Lee als auch Romeo Franz treibt vor der Europawahl im Juni vor allem eine Sorge um: dass ein Erfolg der extremen Rechten die Lage verschlimmern wird. Für Franz ist die Bekämpfung von Diskriminierung innerhalb der Mehrheitsgesellschaft deshalb „das Wichtigste“.

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