Debütroman von Lisa Roy: Chicken, Psychohorror, Instagram

In "Keine gute Geschichte" porträtiert Lisa Roy nicht nur das abhängige Subproletariat. Zugleich seziert sie die glitzernde Social-Media-Avantgarde.

Eine Nacktkatze

Überall in diesem Roman gibt es doppelte Böden. Die Großmutter lebt mit Nacktkatzen zusammen Foto: imago

Die „Gegenwart“ ist seit einiger Zeit wieder einmal besonders ideologisch aufgeladen. „Wirklich in der Gegenwart zu leben“ ist ein Wert an sich. Das hat natürlich in erster Linie etwas mit gerade angesagten Trends und Moden zu tun und soll Störgeräusche fernhalten.

Lisa Roys Debütroman indes geht da ganz anders vor. Er stellt sich der Gegenwart unmittelbar, er vibriert förmlich von ihr. Aber es ist, wie der Titel schon sagt und was allen gängigen Mediendiskursen zuwiderläuft, „keine gute Geschichte“. Selten wurden die Rahmenbedingungen des zeitgenössischen Alltags und die Konditionierungen der Wahrnehmung so genau seziert wie in dieser Prosa.

Arielle Freytag ist Anfang Dreißig und Social-Media-Managerin in einer Influencer-Agentur. Das merkt man ihrer Sprache auch an. Sie erzählt in Ich-Form, durchschaut alles und ist trotzdem immer Teil des Ganzen und mittendrin. Sie hat den Absprung aus einem prekären Milieu in Essen-Nord nach Düsseldorf geschafft, ein paar Jahre lang ordentlich Geld verdient, ohne eine akademische oder sonstige Ausbildung dafür zu haben, und einen sicheren Instinkt für das, was zählt.

Und sie sieht gut aus – aber das hängt wieder eng mit ihrer schwierigen Herkunft zusammen, denn ihr unbekannter Vater muss aus undefinierbaren südlichen Regionen gekommen sein und ihr dabei seine Latin-Lover-Attribute übermittelt haben.

Lisa Roy: „Keine gute Geschichte“. Rowohlt, Hamburg 2023. 240 Seiten, 22 Euro

Coole, gebrochene Dialoge

Nach mehr als zehn Jahren kommt sie zum ersten Mal wieder in das Viertel, in dem sie aufgewachsen ist und das seit Jahrzehnten durch alle möglichen Formen der Immigration geprägt wurde. Ihre junge Mutter ist unter ominösen Umständen verschwunden, als Arielle sechs Jahre alt war, sie lebte dann im Haushalt der Großmutter.

Arielle findet ihr Kinderzimmer genauso vor, wie sie es damals verlassen hat, und die Großmutter, die sich „Varuna“ nennt, aber eigentlich Heidrun heißt, ist genauso absonderlich und verquer wie eh und je. Sie gibt Töpferkurse im Nachbarschafts­treff, lebt mit diversen Nacktkatzen und Kakteen zusammen und verbindet ihr merkwürdiges Hippietum mit einer zynischen Lebensabgewandtheit.

Überall gibt es doppelte Böden. Alles erscheint erst einmal grell, aber langsam wird klar, dass es sich bei der Ich-Perspektive Arielles um eine Kunstform handelt, die unter der Hand gebrochen wird – ihre Attitüden, ihre Statements, ihre coolen Dialoge inszenieren sich als eine Pose. Es tut sich ein Abgrund auf, und fast sogartig wird man mit hineingezogen. In Essen-Katernberg stößt Arielle sofort auf den Umstand, dass gerade zwei vorpubertäre Mädchen entführt worden sind. Unwillkürlich stellt sich für die Protagonistin eine Verbindung zu ihrer früh verschollenen Mutter her.

Es ist charakteristisch, wie sie an der Tür von „Kodak Döner“ die Vermisstenanzeigen wahrnimmt, manche handgebastelt, andere offiziell von der Polizei ausgehängt: „Würden verschwundene Mädchen von Coca-Cola gesponsert, hätte das anders ausgesehen. Es hätte CLPs mit Bewegtbildern gegeben, irgendeinen interaktiven Kack, Micro-Influencer hätten auf ihren Channels mitgeholfen, alles wäre glatter und weniger verzweifelt homemade.“

Das Aufeinanderprallen der Düsseldorfer Social-Media-Professionellen mit ihren alten Freundinnen und Klassenkameradinnen aus dem abgehängten Ruhrpottmilieu führt zu enormen Reizen, mit hyperrealistischen Szenen und knappen, pointierten Dialogen. Einerseits zeigt sich der Roman als eine prägnante Sozialstudie, andererseits aber entwickelt er eine seltsam flirrende und schwer greifbare Komik, die auf dem schmalen Grat der Verzweiflung balanciert.

Sehnsucht nach Cocktails

Wenn Arielle mit ihrer früheren Realschulfreundin Melanie zusammentrifft, die 20 Stunden in der Woche bei Lidl an der Kasse sitzt und daneben schwarz als Putzfrau jobbt, überfällt sie automatisch die Sehnsucht danach, wieder „auf den Dachterrassen gläserner Hochhäuser Cocktails“ zu trinken. Und sie findet es immer noch gut, diesen Weg gewählt zu haben, anstatt wie die besseren ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen „in verlausten WGs für Anglistik-Klausuren zu büffeln“.

Doch die durch ihre rhetorische Verve und Lakonie bestechende Ich-Erzählung Arielles läuft nie Gefahr, bloße Karikaturen zu liefern und abrufbare Klischees zu bedienen. Auf raffinierte Weise, geradezu schleichend, werden alle handelnden Personen in ihrer individuellen Charakteristik ernst genommen und allmählich unverwechselbar.

Melanie entwickelt sich, trotz ihrer Vorliebe für Tiefkühlpizza und Chicken Nuggets, sogar zu einer Art Vertrauten, und auch die zunächst als „Gutmensch“ eingestufte Sozialarbeiterin Meryem mit ihrer Ausstrahlung nach „Weltmusik und Lagerfeuer“ entpuppt sich als eine überraschend differenzierte Figur.

Spöttisch und distanziert betrachten

Dieser Roman, diese Geschichte, die „keine gute“ ist, arbeitet mit Thrillerelementen, mit Horror und Abstürzen, aber auch mit satirischen Analysen neuester Internetformate und mit einer unpathetischen und irritiert vorantastenden Liebesgeschichte. Das Überdrehte folgt einem genauen Plan. Die Dimensionen, für die die Großmutter Varuna steht, sind anfangs kaum zu erahnen.

Vor allem aber beeindruckt die Art und Weise, wie die Protagonistin Arielle angelegt ist. Sie ist nach zehn Jahren ihres glitzernden Berufslebens zusammengebrochen und in der Psychiatrie gelandet, und sie ist überzeugt davon, ihre Agentur- und Instagram-Identität durchaus spöttisch und distanziert zu betrachten – aber gleichzeitig ist sie immer noch darin gefangen.

Es ist ein vielschichtiges ästhetisches Spiel, wie Arielle in ihren Wahrnehmungen ihr eigenes Selbstverständnis immer mehr unterläuft. Mit überkommenen Formen von Gesellschaftskritik hat dieser Roman nicht viel zu tun. Aber er legt, mit ihren eigenen Mitteln, die Leerstellen der hegemonialen Pop- und Vernetzungsindus­trien bloß.

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