Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig: Das Gehirn der Nation

Seit 1912 sammelt die Deutsche Nationalbibliothek sämtliche in Deutschland erschienenen Bücher. Ist das im Digitalzeitalter noch zeitgemäß?

Die Illustration zeigt den Lesesaal der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig: im Vordergrund Tische mit Lampen, im Hintergrund Regale mit Büchern

Wer einen „Giftschein“ hatte, konnte hier im Lesesaal auch zu DDR-Zeiten Westliteratur studieren Illustration: Jeong Hwa Min

LEIPZIG taz | In dem altehrwürdigen Gebäude ist es auch bei hochsommerlichen Temperaturen angenehm kühl. Es riecht nach Druckerschwärze, Bohnerwachs und Möbelpflegemitteln. Wie lange habe ich das nicht mehr gerochen? Als ich in den 1980er Jahren in Leipzig studierte, habe ich viele Abende im historischen Lesesaal der Deutschen Bücherei gearbeitet, wie sie damals hieß.

Tische, Sessel, Leselampen und Bücherregale stammen aus der Zeit rund um den Ersten Weltkrieg. Heute ist die 1912 gegründete Institution eine von zwei Filialen der Deutschen Nationalbibliothek. Die andere steht in Frankfurt am Main und wurde infolge der deutschen Teilung gegründet. Die altehrwürdigen Möbel im Leipziger Lesesaal, die alle paar Jahre aufpoliert werden, stehen noch da. Die Werke von Marx und Engels in den Regalen sind aktuellen wissenschaftlichen Standardwerken gewichen. Nach wie vor kann man keine Bücher nach Hause ausleihen.

Alle Bücher werden aufbewahrt

Die Deutsche Nationalbiblio­thek ist eine ganz besondere Bücherei. Sie ist das „Gedächtnis der Nation“. Jeder Verlag in Deutschland ist seit 1912 verpflichtet, ein Exemplar aller gedruckten Bücher hierher kostenlos abzugeben. „Bücher“ ist dabei nicht nur wörtlich zu nehmen, denn die Bibliothek sammelt und bewahrt auch Zeitungen, Zeitschriften, Tonträger und geografische Karten, für die es jeweils eigene Lesesäle gibt. Für die Ewigkeit.

2006 wurde der Sammelauftrag auf digitale Medien erweitert. Darüber hinaus sammelt die Bibliothek auch deutschsprachige Literatur aus Österreich, der Schweiz und weiteren Staaten sowie fremdsprachige Literatur über Deutschland. Will man eine Dissertation aus der Zeit vor 1945 oder auch aus den ersten Jahren der DDR lesen, dann ist der Weg nach Leipzig oft alternativlos.

Die Gründung der Deutschen Bücherei 1912 geht auf eine Ini­tiative des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zurück. Der wollte einen Ort schaffen, wo alle Bücher an einem Ort gelesen und erhalten werden können. Nach langer Debatte fiel die Wahl nicht auf die bereits bestehenden Staatsbibliotheken in Berlin oder München, sondern auf einen Neubau in Leipzig. Die sächsische Metropole beherbergte damals die meisten Buchverlage. Man wollte es den Verlegern so einfach wie möglich machen, ihre Pflichtexemplare an das Gedächtnis der Nation abzugeben.

Die Besonderheit Die Bibliothek archiviert sämtliche deutschsprachigen Publikationen seit 1912. Über Nachlässe gelangten auch einzelne ältere Publikationen in die Bestände. In der NS-Zeit war die Sammlung diverser Literatur nicht möglich, was später mühsam, aber nicht vollständig nachgeholt wurde. Die Medien können nur im Lesesaal eingesehen werden. Die Nutzung ist seit 2019 kostenlos.

Die ZielgruppeStudierende und Forschende in Leipzig und Umgebung, für die in den Lesesälen wissenschaftliche Standardwerke in mehrfacher Ausführung stehen. Ein historisch interessiertes Publikum reist aus aller Welt an.

Hindernisse auf dem WegKeine. Die Tram hält neben dem Gebäude, die S-Bahn ist in sieben Minuten zu Fuß erreichbar. Nur sonntags ist geschlossen.

Alle 20 bis 30 Jahre, so sagten es die Gründungsväter voraus, müsste ein neuer Magazinbau hinzukommen. Tina Bode von der Deutschen Nationalbibliothek sagt: „Das hat sich als richtig erwiesen.“ Ideal für den Erhalt der Bücher seien Raumtemperaturen von 18 Grad und eine geringe Luftfeuchte.

Der „Giftschein“ für Westliteratur

Grund für die Erweiterungsbauten sind 10.000 Neuzugänge an Büchern pro Tag. 6.500 davon kommen inzwischen digital. Ist es im Zeitalter der Digitalisierung eigentlich noch zeitgemäß, gedruckte Bücher für die Ewigkeit aufzubewahren? Wäre es nicht platzsparender, sie alle zu digitalisieren?

Direktor Michael Fernau weist das zurück: „Solange es noch Kaufleute gibt, die Bücher aus Papier für ein Publikum anbieten, sammeln wir die auch“, sagt er der taz. In den letzten Jahren seien zwar die Auflagen pro Buch zurückgegangen, nicht aber die Zahl der erschienenen Titel. Sieben Fußballfelder würden die Bücher in Leipzig füllen, wenn man sie alle nebeneinander aufstellen würde.

Da während meiner Studienzeit in den 1980er Jahren auch Westverlage ihre Pflichtexemplare nach Leipzig schickten, war die Deutsche Bücherei einer der wenigen Orte für Studierende, um Fachliteratur aus dem Westen lesen zu können. Dazu brauchte man allerdings bei vielen Titeln einen „Giftschein“ eines Professors, mit deren Ausgabe die verschiedenen Uni-Institute unterschiedlich großzügig umgingen.

Gedrucktes muss haltbar gemacht werden

Der „Giftschein“ bezog sich allerdings nur auf das jeweilige Studienfach oder auch nur auf einzelne Buchtitel. Um beispielsweise in der Bundesrepublik oder Österreich erschienene nicht jedem zugängige Belletristik ausleihen zu dürfen, musste man schon Germanistik studieren. Der „Giftschein“ eines Wirtschaftsprofessors half da nicht.

Hinzu kommt: Die DDR konnte während der deutschen Teilung die Abgabe von Pflichtexemplaren gegenüber Verlagen außerhalb der DDR schwer durchsetzen. Die taz beispielsweise führte erst ab 1991 einzelne und ab 1992 vollständige Bestände nach Leipzig ab. Mit dem Ergebnis, dass die Ausgaben der Gründerjahre heute in der sächsischen Stadt nur über Fernleihe zu haben sind.

Zeitungspapier ist besonders brüchig, wenn es durch viele Hände geht. Darum werden seit den 1990er Jahren Zeitungen als Mikrofilme ausgeliehen. Doch auch das Papier von Büchern hält nicht für die Ewigkeit, wenn man nicht etwas dafür tut. Literatur aus den Anfangsjahren der Bibliothek, aber auch viel Nachkriegsliteratur wurden oft auf saurem Papier gedruckt, das sich leicht zersetzt. „Die Papiere werden mit Lauge chemisch neutralisiert“, erläutert Direktor Michael Fernau. „Dafür geben wir bis zu 400.000 Euro pro Jahr aus.“

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Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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