Die Linke und die Barbarei der Hamas: Sie verstehen den 7. Oktober nicht

Wenn Israel schwach ist und Jüdinnen und Juden ermordet werden: Müsste es im persönlichen politischen Koordinatensystem nicht irgendwo jucken?

Naomi Klein spricht in ein Mikrofon

Washington, 18.10.2023: Naomi Klein demonstriert für einen Waffenstillstand in Gaza Foto: Leah Millis/reuters

Sie prasseln herein, die Stellungnahmen und offenen Briefe der Intellektuellen, der Kunsttreibenden, SchauspielerInnen und sonstigen linken und linksliberalen Prominenten aus aller Welt, vor allem der englischsprachigen. Sie verlangen „Feuerpause“, „Waffenstillstand“, „Schutz der Zivilisten“ und „Frieden“ für Gaza und Nahost.

Wie immer gilt: Wer wollte etwas gegen Frieden haben? Nur war da doch noch was.

Die menschlichen und politischen Abgründe, die sich mit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober auftaten, kommen in diesen Texten nicht vor. Das lässt nur den Schluss zu, dass den AutorInnen und Unterzeichnenden die Existenz des Landes Israel als garantierte Heimstatt für Jüdinnen und Juden mindestens egal ist. Dass sie die außergewöhnliche Barbarei der Hamas nicht als solche wahrnehmen und sich ihr Bild vom Nahostkonflikt deshalb auch nicht nennenswert ändert.

Stattdessen servieren sie Slogans, „Stop Genocide in Gaza“ – oder in den Worten der kanadisch/US-amerikanischen Publizistin Naomi Klein auf Twitter/X: „Speak out against genocidal violence.“ Sie meint israelische Gewalt. Zur Art der Gewalt der Hamas: kein Wort.

Naomi Klein liefert wirkungsvoll Pointen

Naomi Klein gehört zu den jüdischen AktivistInnen in Nordamerika, die sich schon länger für die Rechte der PalästinenserInnen einsetzen. Das war bisher aber nicht ihr Hauptthema. Klein hat seit über zwanzig Jahren die linke und globalisierungsskeptische Debatte geprägt. Mit Büchern wie „No Logo!“, auf Deutsch 2001 erschienen, oder 2007 „Die Schock-Strategie“ hat sie den kapitalismuskritischen Diskurs auch in Deutschland stark beeinflusst.

Es ist selten seriös, PublizistInnen sofort als „Ikonen“ oder „Säulenheilige“ zu bezeichnen, nur weil sie Hörsäle füllen und sich ihre Bücher gut verkaufen. Aber jede soziale Bewegung hat ihre Thesen- und PointenlieferantInnen, und Naomi Klein ist davon eine besonders wirkungsvolle.

Ich nenne sie hier dennoch nur stellvertretend für die vielen, von denen ich schlicht angenommen hätte, dass der 7. Oktober bei ihnen etwas im Kopf verschieben würde. Klein ist alt und belesen genug, um zu wissen, dass der Nahostkonflikt, wenn überhaupt, dann sicher keine einfache Lösung kennt.

Hat sich nichts geändert?

Einmal unterstellt, dass für Klein wie für viele andere die palästinensische Sache schon deshalb ins ideologische Programm gehörte, weil anständige Linke immer erstmal zu den Schwächeren halten und der Staat Israel so stark wirkte: Das hat sich an jenem Samstag erledigt. Müsste es dann nicht im persönlichen politischen Koordinatensystem irgendwo jucken?

„This changes everything“ (deutscher Titel: „Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima“) von 2015 ist ein weiterer Bestseller Kleins. Für klimapolitisch Eingelesene mag darin nicht viel Neues gestanden haben. Aber der englische Titel brachte die Notwendigkeit, angesichts schier überwältigender Ereignisse (Klimawandel) grundlegende Mechanismen (Marktwirtschaft) zu überdenken, auf eine großartige Formel. Vielleicht hoffte ich deshalb, Klein würde nach dem Pogrom der Hamas wenigstens sagen: „This changes something.“

Ist aber nicht so. Und es frustriert mich zutiefst, dass so viele Leute, mit denen ich Ideen und Ziele teile oder zu teilen dachte, die Bedeutung dieses 7. Oktobers für Jüdinnen und Juden, für Israel, und für menschlichen Umgang insgesamt zu ignorieren scheinen. Die Globalisierungskritik hat seit Ende der 1990er Jahre eine neue internationale, von Beginn an ökologische Linke geschaffen. Sie hat so viel erreicht. Mir ist nicht klar, wie die Bewegung diesen Oktober überstehen soll. Mir ist nicht klar, wie die Linke überhaupt diese Runde des Nahostkonflikts überstehen soll.

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Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.

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