Gil Ofarim und Antisemitismusvorwürfe: Sie lieben den Lügner

Gil Ofarim hat zugegeben, dass er einen Antisemitsmusvorwurf erfunden hat. Aber nicht er ist schuld daran, dass Antisemitismus verharmlost wird.

Menschen mit Israelfahne versammeln sich vor einem Hotel

Spontane Demonstration gegen Antisemitismus 2021 vor dem Westin Hotel in Leipzig Foto: Dirk Knofe/dpa

Eigentlich hatten wir den Antisemitismus in Deutschland schon fast besiegt. Juden und Jüdinnen konnten endlich friedlich hier leben: Judenfeindliche Parolen auf Demos, tägliche Angriffe und Drohungen gehörten der Vergangenheit an. Antisemitismus spielte bei uns einfach keine Rolle mehr, wir hatten ihn erfolgreich bekämpft. Doch dann kam Gil Ofarim, erfand eine antisemitische Tat und hatte mit einer einzigen Lüge alles wieder zunichte gemacht.

Dieses Szenario ist Quatsch und hat nur wenig mit der bundesdeutschen Realität zu tun. Aber wer die Debatte um den jüdischen Sänger verfolgt hat, kann schnell das Gefühl bekommen, Ofarim sei der Hauptschuldige für das strukturelle Problem mit Judenhass in Deutschland. Denn nachdem er im Prozess gestanden hatte, einen antisemitischen Vorfall erfunden zu haben, überschlugen sich die Kommentare.

Ofarim habe eine „ganze Region in den Schmutz“ gezogen. Sein Fall erwiese dem Kampf gegen Antisemitismus „einen Bärendienst“ oder sei gleich eine „Katastrophe“. Denn wegen seiner Lüge würden die Menschen jetzt erst recht ihrem Judenhass Raum geben, Opfern keinen Glauben mehr schenken und sich nicht mehr hinter sie stellen.

Klar, es ist nicht in Ordnung, was Ofarim getan hat. Weil er keine Lust hatte, an der Rezeption eines Hotels Schlange zu stehen, beschuldigte er den Leipziger Hotelmanager in einem Video, dass er ihn aufgrund seiner Halskette mit Davidstern vom Check-in abgehalten habe. Zwei Jahre ist es her, in der Folge erfuhr er große Solidarität. Am Tag nach der Veröffentlichung gab es eine Demo mit 600 Personen, es folgten Boykottaufrufe gegen das Hotel – alles begleitet von einem großen Medienecho. Doch schnell gab es Zweifel an der Schilderung, der Fall landete schließlich vor Gericht, wo Ofarim sich wegen Verleumdung und falscher Verdächtigung verantworten musste.

Eine faule Ausrede

Im Prozess hat er nun seine Lüge gestanden, sich beim Hotelmanager entschuldigt, der die Entschuldigung angenommen hat. Jetzt steht nur noch eine Strafe von 10.000 Euro aus. Und dann ist der Fall erledigt. So unfair seine Lüge gegenüber dem Hotelmanager und so egozentrisch sein Verhalten gewesen sein mögen, ihm nun quasi die Schuld am Versagen im Kampf gegen Antisemitismus zu geben, ist falsch. Denn welche Rolle seine Lüge im hiesigen Kampf spielen wird, entscheiden wir als Gesellschaft selbst.

Gerade erst hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) neue Zahlen zu antisemitischen Vorfällen veröffentlicht. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel bis zum 9. November haben sie 994 antisemitische Straftaten in der Bundesrepublik dokumentiert. Doch 29 antisemitische Fälle pro Tag scheinen das Land nicht annähernd so stark umzutreiben wie der Fall eines Lügners. Sie werden im schlimmsten Fall ignoriert und heruntergespielt oder ihnen wird zumindest nicht entschieden genug entgegengetreten.

Dass diskriminierende Strukturen verharmlost und Einzelfälle von Lügner_innen hochgejazzt werden, kennen wir auch aus anderen Bereichen wie etwa dem der sexualisierten Gewalt. Wenn Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt ihre Erfahrungen öffentlich machen und einen Schuldigen benennen, schlägt ihnen oft Misstrauen entgegen. „Ach, das kann ich mir bei dem gar nicht vorstellen!“, „War es wirklich so schlimm?“ oder „Kannst du das denn belegen?“, heißt es dann. Die letzten medienwirksamen #MeToo-Fälle in Deutschland haben gezeigt, wie virulent noch immer das Narrativ der lügenden Frau ist.

Doch dass die Gesellschaft Opfern von sexualisierter Gewalt keinen Glauben schenkt, liegt nicht daran, dass es da einmal eine lügende Frau gab (die es in Einzelfällen natürlich gibt), sondern dass wir nicht bereit sind, anzuerkennen, wie groß unser Problem mit Sexismus ist und welchen Teil wir selbst dabei spielen. Der oder die Lügner_in wird so zu einer faulen Ausrede, um sich nicht mit seinen eigenen Problemen auseinanderzusetzen.

Zu so einer faulen Ausrede scheint nun auch Gil Ofarim zu werden. Denn wenn die Aufregung über diesen einen Lügner lauter bleibt als die Aufregung über die täglich ansteigenden antisemitischen Straftaten, dann entlarvt sich die Gesellschaft selbst.

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