Holocaust-Vergleiche: Schwarze Milch der Frühe

Angesichts des Massakers der Hamas in Israel vergleichen auch nichtjüdische Deutsche die Ereignisse mit dem Holocaust. Warum das keine gute Idee ist.

Menschen in einem dunklen Raum.

Gedenkstätte des ­ehemaligen Konzentra­tionslagers Auschwitz-Birkenau Foto: Karsten Thielker

Wir leben in einer Zeit, die nach langen Jahren der Entpolitisie­rung und der Aushöhlung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen wie Gewerkschaften, Kirchen oder auch Vereinen abrupt in eine Phase der extremen politischen Agitation übergegangen ist. Der belgische Historiker Anton ­Jäger nennt das in einem gerade bei Suhrkamp erschienenen Buch „Hyper­politik“.

Heute, wo alle im 20. Jahrhundert so prägenden grand narratives weggebrochen sind, bleibt in unserem politischen Imaginarium nicht mehr viel, wonach die meisten Menschen greifen können, um die Welt um sich herum in Worte zu fassen. Das „Dritte Reich“ und der Holocaust sind fast der einzige Referenzpunkt, der noch bleibt. In deutschen Schulen und Zeitungen, in Hollywoodfilmen und Computerspielen, in Reden von so unterschiedlichen Politikern wie Frank-Walter Steinmeier und Wladimir Putin wird der ­Holocaust als der schlimmstmögliche Zivilisationsbruch, werden die ihn ausführenden Nazis als das ultimativ Böse beschworen.

Die deutsche Wachsamkeit gegenüber Gewalt und Anfeindung gegen Juden ergibt sich zwangsweise daraus, dass Deutschland den Holocaust verbrochen hat. Wir hatten in den letzten Jahren zu Recht viele Diskussionen über die Unzulässigkeit von Vergleichen oder Relativierungen des Holocaust, über die Einzigartigkeit der Shoah. Ein von einer modernen staatlichen Bürokratie mitorganisierter industrieller Massenmord an sechs Millionen Menschen ist einzigartig.

Doch nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober in Israel scheint diese Diskussion hierzulande wie weggewischt. Der deutsch-französische Journalist Nils Minkmar, Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, postete in seinem Social-Media-Kanal den Satz: „Der Tod ist ein Meister aus Gaza.“ Das ist eine Abwandlung der berühmten Zeile aus Paul Celans Gedicht „Die Todesfuge“: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“ Das Gedicht verfasste Celan noch während des Zweiten Weltkriegs.

Anfänglich verteidigte Nils Minkmar seinen Post gegen Kritik auch jüdischer Nutzer. Dann löschte er ihn doch. Immerhin. Doch diese öffentliche Äußerung eines bekannten deutschen Journalisten ist emblematisch für den Umgang vieler Deutscher mit ihrer Schuld: Abspalten und projizieren nannte man das mal in der Psychoanalyse.

Die Vorgänge an einem Ort weit weg, auf den man keinen Einfluss hat, bieten eine Leinwand, auf die man seine eigene Befindlichkeit werfen kann. Denn wie man sich in deutschen Zeitungen oder deutschen Instagram-Accounts positioniert, hat so gut wie keinen Einfluss darauf, was im Nahen Osten wirklich passiert. Es ist einfach und wohlfeil, seine moralische Entrüstung kundzutun, wenn das keine Konsequenzen hat. Viel schwieriger ist es, im eigenen politischen Kontext für Gerechtigkeit und gegen Antisemitismus zu kämpfen.

Am Tag nach den grausamen Angriffen der Hamas auf Juden in Israel fanden in Bayern Wahlen statt. Die guten Deutschen im wohl allerbesten und allerdeutschesten aller Bundesländer gaben den Freien Wählern 15,8 Prozent ihrer Stimmen. Der größte Aufreger der vergangenen Monate war die Enthüllung, dass Hubert Aiwanger, Vorsitzender der Freien Wähler und stellvertretender Ministerpräsident, in den 80er Jahren als Schüler in seinem Rucksack Flugblätter herumtrug, die dazu aufforderten, „Vaterlandsverrätern“ einen „Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz“ zu gönnen.

Weithin wurden diese Zeilen als Verharmlosung des Holocaust und damit antisemitisch gewertet. Zeugen berichteten, dass Aiwanger zu der Zeit Ansichten geäußert habe, die man als rechtsextrem werten könnte. Das alles seien Jugendsünden, ließ Aiwanger verlauten, und ohnehin, das Flugblatt habe sein Bruder verfasst, der diese Schuld auf sich nahm. Ministerpräsident Markus Söder entschloss sich nach einigem Zögern und dem Stellen einiger schriftlicher Fragen, Aiwanger nicht fallen zu lassen. Damit war die Sache gegessen. Sieht so eine zufriedenstellende Auseinandersetzung mit Antisemitismus im Deutschland des Jahres 2023 aus? Die Bürger Bayerns haben Aiwangers Freien Wählern auf jeden Fall eine Zunahme von 4,2 Prozentpunkten gegenüber dem Jahr 2019 beschert. Und jetzt?

Sicher, es ist etwas fundamental anderes, ob eine Gruppe Mörder ein Massaker begeht oder ob eine Gruppe Wähler rechts Kreuze auf einem Wahlzettel macht.

Aber die Gefahr des deutschen Antisemitismus sollte angesichts der Taten der Hamas nicht verharmlost werden.

Die Wahl in Bayern war diesen Monat nicht die einzige Gelegenheit, über die noch immer drohende Gefahr des deutschen Antisemitismus zu reflektieren. Anfang Oktober jährte sich der Anschlag auf die Synagoge in Halle zum vierten Mal. Ausgerechnet am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur hatte ein Terrorist versucht, in den Tempel einzudringen und die versammelte Gemeinde zu ermorden. Stattdessen erschoss er zwei Passanten. Der Terrorist ist Deutscher. Laut dem jüngsten Bericht des Bundeskriminalamts zu politisch motivierter Kriminalität sind die allermeisten antisemitischen Übergriffe hierzulande dem deutschen rechten Spektrum zuzuordnen. Der Tod ist also noch immer ein Meister aus Deutschland. Für Juden in Israel geht eine Gefahr von der Hamas in Gaza aus. Aber für Juden hier in Deutschland geht die größte Gefahr nicht von Gaza aus, sondern von Bayern, von Sachsen, von Baden-Württemberg, von Brandenburg.

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Redakteur taz2, zuständig für Medienthemen. Interessiert sich auch für Arbeitskämpfe und sonstiges linkes Gedöns, aber auch queere Themen und andere Aspekte liederlichen Lebenswandels. Vor der taz einige Jahre Redakteur im Feuilleton der Zeit und als freier Journalist in Europa, Nordamerika und dem Nahen Osten unterwegs gewesen. Ursprünglich nicht mal aus Deutschland, aber trotzdem irgendwann in Berlin gestrandet. Mittlerweile akzentfrei.

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